© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Israel und die deutsche Staatsräson
Mit Herz und Verstand
Thorsten Hinz

Sachlich über das Verhältnis zu Israel zu sprechen, ist in Deutschland noch immer schwierig. Auch die Reden zum Holocaust-Gedenken vergangene Woche im Bundestag brachten keine Klarheit. Treffend war die Aussage der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch, daß heute sich „der Haß oft nicht mehr gegen die Juden, sondern gegen die Israelis“ richte, mithin gegen den Staat Israel. In einen Selbstwiderspruch geriet sie, als sie die Grenzöffnung 2015 eine „unglaublich generöse, mutige, menschliche Geste“ nannte. Immerhin hat die Aktion die Tore für zahlreiche Menschen geöffnet, die den Israel-Haß, der in Deutschland sonst schlichtweg nicht gesellschaftsfähig ist, auf die Straße tragen. Mit ihrem Beifall bekundete die Mehrzahl der Abgeordneten, daß sie von Affekten statt von durchdachten Konzepten geleitet werden. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte in seiner Ansprache gar nicht erst versucht, die Antagonismen aufzulösen. Er beschränkte sich auf parteipolitische Polemik im Gewand der „Nie-wieder“-Rhetorik.

So bleibt die Frage weiter unbeantwortet, die der AfD-Politiker Alexander Gauland im September aufgeworfen hatte: die Frage, welche Konsequenzen die Formel impliziere, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen Staatsräson. Ob man im Ernstfall auch deutsche Soldaten zum Kampfeinsatz entsenden wolle? Bild giftete umgehend: „AfD-Anführer Gauland. Gefährliche Sätze über Israels Existenzrecht“. Doch nicht das Existenzrecht Israels war Gaulands Thema gewesen, sondern die deutsche Außen- und Militärpolitik. Auch Bild konnte nicht für Klarheit sorgen. Regierungssprecher Steffen Seibert blockte alle Fragen nach einem möglichen Militäreinsatz im Nahen Osten beharrlich ab.

Kanzlerin Merkel hatte 2008 vor der israelischen Knesset erklärt: „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“

Die Formulierung „Stunde der Bewährung“ war unnötig. Es ging konkret um die iranischen Atompläne, durch die Israel sich gefährdet fühlte. Um sie zu durchkreuzen, würde Deutschland sich für Sanktionen einsetzen. So weit, so klar. Abgesehen davon werden die Israelis es niemals zulassen, daß ihre Sicherheit zum Verhandlungsgegenstand irgendeiner – und schon gar nicht der deutschen – Regierung wird.

Merkels täppische Äußerung enthielt Brisanz, weil sie den zwischen Beliebigkeit und Gesinnungsradikalismus changierenden Begriff „historische Verantwortung“ mit der „Staatsräson“ zusammenspannte, die einen klar umrissenen Sachverhalt bezeichnet. Daraus konnte ein Automatismus gefolgert werden, der eine militärische Beistandsverpflichtung einschloß. Deshalb sah sich Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Israel-Besuch 2012 veranlaßt, Befürchtungen zu dämpfen. Er wolle sich nicht jedes Szenario ausdenken, erklärte er, das die Kanzlerin „in enorme Schwierigkeiten“ bringe, ihren Satz „politisch umzusetzen“.

Was die Position Deutschlands zu den israelischen Sicherheitsinteressen betrifft, stellt die Lage sich so dar: Es existiert ein historisch bedingtes Sonderverhältnis, dem schon Konrad Adenauer in den 1950er Jahren mit heimlichen Waffenlieferungen Tribut gezollt hatte. Die U-Boote, die Israel heute seine atomare Zweitschlagskapazität und letztlich seine Unbesiegbarkeit sichern, werden weitgehend von Deutschland finanziert, ohne daß darüber viel Worte verloren werden. Was ein Fehler ist, denn auch daraus können sich Verwicklungen ergeben, auf die man gefaßt sein muß, sollen Staat und Gesellschaft nicht kollabieren, falls tatsächlich eine „Stunde der Bewährung“ eintritt.

Der Staat ist die politische Existenzform eines Volkes, durch die es sich behauptet. Unter Staatsräson wird seine Fähigkeit verstanden, die zum Selbsterhalt nötigen Entschlüsse zu fassen. Es geht um Sein oder Nichtsein, um den

absoluten Ernstfall.

Aus dem besonderen Verhältnis folgt nicht, daß man jeden Beschluß und Winkelzug der israelischen Politik gutheißt und mitvollzieht. Es wäre ein Zeichen politischer Unreife zu versuchen, die gesinnungsethische Rhetorik zu überbieten und sich als staatstragende Kraft zu empfehlen, indem man sich mit jeder, im Einzelfall völkerrechtlich fragwürdigen Position des Staates Israel identifiziert.

Der Staat ist die politische Existenzform eines Volkes, durch die es sich behauptet. Unter Staatsräson wird seine Fähigkeit verstanden, die zum Selbsterhalt nötigen Entschlüsse zu fassen. Es geht um Sein oder Nichtsein, um den absoluten Ernstfall. Weil Staat A nicht mit Staat B identisch ist, kann auch die Staatsräson A nicht deckungsgleich mit B sein. Macht ein Staat die Staatsräson eines anderen Staates zum Bestandteil der eigenen, überträgt er die Entscheidung über die eigene Existenz an ihn.

In der DDR-Verfassung von 1974 lautete Artikel 6, Absatz 2: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet. Das enge und brüderliche Bündnis mit ihr garantiert dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik das weitere Voranschreiten auf dem Weg in den Sozialismus und des Friedens.“ In dieser Festschreibung der eigenen Satrapenstellung drückte sich das genetische Abhängigkeitsverhältnis der DDR aus. Sie war ein Kind der Sowjetunion und auf Gedeih und Verderb an sie gekettet. Ihre Existenz war ein Element der sowjetischen Machtpolitik, die in modifizierter Form die Staatsräson des ewigen Rußland fortsetzte. Die Systemauseinandersetzung – im Osten „internationaler Klassenkampf“ geheißen –, hatte die machtpolitische Tatsache überlagert, doch niemals außer Kraft gesetzt.

Für die SED-Führung nahm die Identifizierung mit der russisch-sowjetischen Staatsräson ein böses Ende, als diese in den 1980er Jahren erneut modifiziert wurde, der Kreml sein überdehntes Imperium aufgab und die DDR der Bundesrepublik überließ. Am Ende wurde sogar der langjährige Staats- und Parteichef Honecker, der sich als Moskaus treuester Paladin aufgeführt hatte, an den „Klassenfeind“ ausgeliefert.

Doch schon eine situative, eine Ad-hoc-Identifizierung mit der Staatsräson des anderen Staates durch die Politik des „Blankoschecks“ kann zur faktischen Geiselnahme durch diesen führen. Der Scheck, den Staat A ausstellt, kann Staat B zu einer Politik erhöhten Risikos veranlassen, weil er überzeugt ist, daß A es auf jeden Fall mitträgt, ganz gleich, ob es seinen Interessen entspricht oder nicht, und das Risiko für ihn selbst damit kalkulierbar bleibt. Tatsächlich erhöht es sich für beide und kann sie in eine lebensbedrohliche Lage führen. Die Geschichte liefert dafür Beispiele.

Die Bundesrepublik war bis 1990 teilsouverän. Das Bekenntnis zur Nato und zur westlichen „Wertegemeinschaft“ mußte ihr ersetzen, was ihr an nationalstaatlicher Handlungsfreiheit fehlte. Trotzdem waren führende Politiker sich bewußt, daß deutsche und die Interessen der „westlichen Wertegemeinschaft“ nicht deckungsgleich waren. Egon Bahr teilte in seinem letzten Erinnerungsbuch mit, daß die sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt – beide überzeugte Atlantiker – entschlossen waren, den Befehl zu verweigern, sollten die USA „die Atomwaffen einsetzen, für die mit Lance-Raketen ausgerüstete deutsche Einheiten vorgesehen waren“. Deren Reichweite hätte nämlich auf deutschem Territorium geendet. Maßgeblich sei der Wille der Kanzler gewesen, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, also das Wohl des Landes höher zu stellen als das Wohl der Nato“.

Ist unseren aktuellen Funktionseliten eine vergleichbare Interessenunterscheidung und -abwägung zuzutrauen? Entsprechende Debatten werden – wenn überhaupt – überwiegend im Jargon von Pazifisten, Sozialarbeitern, Kirchentagsfunktionären und Gesinnungsradikalen geführt. Beispielhaft für das metaphysisch überhitzte Geschichts- und Politikverständnis steht die Behauptung des stellvertretenden Chefredakteurs der Zeit, Bernd Ulrich, der sich vom grünen Kriegsdienstverweigerer zum Wiedergutmachungs-Bellizisten gemausert hat: „Die militärische Normalisierung Deutschlands“, schreibt er in dem Buch „Wofür Deutschland Krieg führen darf. Und muß“, fände „in der Causa Israel ihre Grenze. Hier herrscht ein Muß, das vom westlichen Bündnis so nicht mehr ausgeht.“

Die Bedeutung

Israels für den Westen ist heute mindestens so groß wie seinerzeit die West-Berlins. Sein Versinken im arabischen Chaos wäre eine Niederlage. Deshalb hat auch Deutschland ein strategisches Interesse an der Existenz des jüdischen Staates.

Nun braucht es überhaupt keine zivilreligiösen Überhöhungen, um mit Israel grundsätzlich solidarisch zu sein, weil dafür ganz realpolitische Gründe existieren. Für die Stellung und Bedeutung des einzigen funktionierenden Staates in Nahost gibt es einen historischen Präzedenzfall: West-Berlin. Die Halbstadt lag bis 1989 gut 150 Kilometer hinter dem Eisernen Vorhang. Militärisch war sie nicht zu verteidigen, die Verbindungswege nach Westdeutschland waren unsicher. Außerdem bildete sie einen ständigen Spannungsherd im Ost-West-Konflikt.

Für die Nato und die drei Westmächte, welche die Oberhoheit ausübten, war West-Berlin faktisch ein Klotz am Bein. Entscheidend war die Haltung, welche die USA gegenüber den massiven Begehrlichkeiten aus Moskau und Ost-Berlin einnahmen. Im Juni 1961 kam es darüber zwischen US-Präsident Kennedy und dem sowjetischen Parteichef Chruschtschow beim Gipfeltreffen in Wien zum Showdown. Moskau hatte angekündigt, mit der DDR einen separaten Friedensvertrag abzuschließen und den Zugang nach West-Berlin in ihre Hand zu legen, was auf seine Abschnürung hinauslief. Kennedy erklärte, die USA könnten das nicht hinnehmen. Sie hätten gegenüber Berlin „bestimmte Verpflichtungen übernommen (...), wovon die ganze Welt weiß. Wenn wir jedoch dem Vorschlag der Sowjetunion zustimmen, wird die ganze Welt den Schluß ziehen, daß die USA ein Land seien, das seine Verpflichtungen nicht ernst nimmt. Und ich versichere Ihnen, daß wir unsere Verpflichtungen, die unsere strategischen Interessen berühren, sehr ernst nehmen.“

Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 lehnte er die Forderung Willy Brandts nach scharfen Reaktionen zwar ab. Er dachte nicht daran, sich die Politik von außen diktieren zu lassen. Das durfte er auch nicht, denn was für die Deutschen ein existentieller Einschnitt war, stellte für die USA nur eines von vielen weltpolitischen Problemen dar. Doch er versicherte, daß die USA für die Unversehrtheit West-Berlins auf jeden Fall einstünden und veranlaßte Maßnahmen, die vor allem symbolisch waren und die Moral vor Ort stärkten.

Das geschah nicht aus Sentimentalität, sondern aus der gegenüber Chruschtschow geäußerten Überlegung heraus. Amerikanische Diplomaten hatten vor einem moralischen Zusammenbruch in Berlin und der Bundesrepublik gewarnt. Er könne zu einer „radikalen Umorientierung in der deutschen Politik“ führen, telegrafierte der US-Botschafter nach Washington. Die Folgen für Westeuropa, die Nato und die Position der USA wären unabsehbar gewesen. Das Festhalten der USA an West-Berlin, das Kennedy 1963 mit dem flammenden Bekenntnis, er sei „ein Berliner“, besiegelte, war primär eine strategische Entscheidung, was emotionale Beimengungen nicht ausschloß.

Die Bedeutung Israels für die westliche Welt ist heute mindestens so groß wie seinerzeit der Stellenwert West-Berlins. Sein Versinken im arabischen Chaos wäre eine moralische Niederlage der westlichen Welt und würde den Gegnern ihre Schwäche, das letale Stadium ihrer Fäulnis signalisieren. Deshalb hat auch Deutschland ein strategisches Interesse daran, die Existenz des jüdischen Staates auf jeden Fall sichern zu helfen. In diesem Sinne liegt Israels Sicherheit im grundsätzlichen Interesse Deutschlands, ohne deshalb seine Staatsräson zu definieren.

Wenn die Regeln politischer Rationalität klargestellt und in Kraft gesetzt sind, kann man über die Modalitäten von Sonderbeziehungen sachlich diskutieren. Aus dem Wissen um die NS-Verbrechen ergeben sich nun einmal besondere emotionale Bindungen zum jüdischen Staat, die fallweise zu einem größeren Entgegenkommen führen, als andere westliche Staaten aufzubringen vermögen. Dieser Emotionalität Raum zu lassen, ohne deswegen den Rahmen politischer Rationalität aufzusprengen und ein irrationales „Muß!“ zu proklamieren, das ist die schwierige Aufgabe im Verhältnis zu Israel.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalisten. Auf dem Forum diskutierte er zuletzt mit Siegmar Faust über den weiteren Umgang mit den Stasi-Akten („Keine exklusive Schmuddelzone Ost“, JF 20/16).

Foto: Anita Lasker Wallfisch, eine der letzten bekannten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz, spricht am 31. Januar während einer Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus: Aus dem Wissen um die NS-Verbrechen ergeben sich besondere emotionale Bindungen zum jüdischen Staat. Die schwierige Aufgabe dabei ist, Emotionalität Raum zu lassen, ohne deswegen den Rahmen politischer Rationalität zu sprengen.