© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/18 / 09. Februar 2018

Die Luft entweicht
Koalitionsvertrag: Reformen? Fehlanzeige! Es geht weiter wie bisher: abwärts
Wolf B. Kernig

Bemerkenswert an der möglichen Einigung von Union und SPD auf eine neuerliche Große Koalition ist vor allem, daß die Anhänger der CDU am zufriedensten sind. Dabei hat die schwarze Seite doch am wenigsten erreicht. Allenfalls die CSU, die im Herbst bei den Landtagswahlen um ihre absolute Mehrheit zittern muß, hat noch Spurenelemente konservativer Politik in das zweihundertseitige Koalitionspapier geschmuggelt. Die Merkel-Partei hingegen hat schon deshalb kapituliert, weil sie ohne eigene Forderungen in die Verhandlungen ging. Wie schon in den zurückliegenden vier Jahren ist die CDU bereits zufrieden, wenn ein paar Forderungen der SPD etwas abgemildert werden. Wer programmatisch entbeint ist, hat eben kein politisches Rückgrat mehr.

Die Kanzlerin, die 2005 noch als liberale Reformerin angetreten war und sich gerne als sparsame schwäbische Hausfrau geriert, betreibt in Wahrheit eine Politik wie weiland Helmut Kohl: mit dem großen Geldsack. Und statt dem Bürger mehr Netto vom Brutto zu lassen, wie es die CDU vor Wahlen verspricht, wird er mit der vagen Aussicht auf ein bißchen weniger Progression und stufenweisen Abbau des Solidarzuschlags vertröstet. Allerdings werden die oberen zehn Prozent, die rund die Hälfte der Lohn- und Einkommensteuer aufbringen, von Entlastungen ausgenommen. Wer mehr als 54.000 Euro verdient, muß bei GroKo 3.0 von jedem zusätzlich verdienten Euro gut 70 Cent abführen. Leistungsträger werden im Hochsteuerland Deutschland also weiter gemolken. Merkel läßt dies auch deshalb zu, weil sie im Herzen eine grüne Sozialdemokratin ist, die konservative und marktwirtschaftliche Positionen allenfalls aus wahlkosmetischen Gründen vertritt. 

Täuschung ist geradezu das Leitmotiv einer GroKo 3.0, die laut Umfragen nicht mal mehr die Hälfte der Wähler hinter sich hat: 

? Der theatralische Streit um den Familiennachzug verdeckt, daß es dabei nur um eine kleine Gruppe geht. Derweil Hunderttausende Migranten, mittlerweile als Asylbewerber anerkannt oder Duldung genießend, Angehörige sogar dann nachholen dürfen, wenn sie nicht für deren Unterhalt sorgen können. Doch davon kein Wort im Koalitionsvertrag. Weder über die tatsächlichen Kosten der „Willkommenskultur“ noch dazu, wie die wachsenden Integrationsprobleme gelöst werden sollen. Von der „Obergrenze“ darf die CSU nicht einmal mehr sprechen – was insofern ehrlich ist, weil nichts unternommen wurde, damit sich „2015 nicht wiederholt“, wie Merkel versprochen hat. In Wahrheit bleibt die Grenze offen für jeden.

? Daß der angeschlagene SPD-Chef Schulz die Europa-Politik zum „Hauptanliegen“ machen will, verheißt ebenfalls wenig Gutes. Nicht nur den CDU-Wirtschaftsrat treibt die Sorge um, daß so die Schulden- und Sozialunion durch die Hintertür eingeführt werden. Im Klartext: Deutsche Steuer- und Beitragszahler haften für refomunwillige EU-Staaten. Statt Netto-Profiteure wie Polen oder Ungarn, die EU-Regeln nach ihren Bedürfnissen auslegen, mit Transferentzug zu bestrafen, will Schulz sogar noch mehr Milliarden und Kompetenzen an Brüssel abtreten. Auch deshalb möchte der gelernte Buchhändler so gern Finanzminister werden: um mit viel deutschem Geld seinen Traum vom Super-Europäer zu erfüllen.

? So geht es fort: Statt das Baurecht zu entschlacken, überzogene Energiesparauflagen zu kappen oder die Grunderwerbsteuer zu senken, wird lieber mit einer neuen Subvention (Baukindergeld) gelockt. Statt die unsinnig teure und für die Umwelt weitgehend nutzlose Energiewende auf eine marktwirtschaftliche Basis zu stellen, wird die Landschaft mit weiteren Windrädern und Solarparks verschandelt, die den Stromkunden noch weiter belasten. Statt Familien bei Steuern und Abgaben zu entlasten, wird ihnen etwas mehr Kindergeld in die Tasche gesteckt, was aber falsche Anreize schafft. Statt das Kostenbewußtsein im Gesundheitswesen zu fördern, wird die Mär vom „Ende der Zwei-Klassen-Medizin“ verkündet. 

So gesehen muß man den Jusos sogar die Daumen drücken, daß sie mit ihrer Anti-GroKo-Kampagne erfolgreich sind. Denn diese Koalition gleicht eher einer teuren Zwangsheirat. Ehrlicher wäre es daher, nicht nur die 460.000 Sozialdemokraten, sondern alle Wähler nach ihrem Urteil zu fragen – auch über eine SPD, die offenbar nur gewählt werden will, um sich in der Opposition zu erholen. Von was eigentlich? Von der Mühsal, mit viel Geld Klientelpolitik betrieben zu haben?

Zur Wahrheit gehört allerdings, daß  die Reformkräfte bei Neuwahlen keine Mehrheit gewinnen würden. Trotz Verlusten ist die Union auch deshalb stärkste Kraft, weil sie Zumutungen vermeidet und lieber hier und dort Zuschläge gewährt, als jemandem etwas zu nehmen. Der Fürsorge-Staat ist bei den Deutschen beliebter als eine Regierung, die Eigenverantwortung fordert. Daß die hohe Belastung mit Abgaben und Steuern kein Thema ist, liegt eben auch an den Bürgern, die demutsvoll hinnehmen, daß ihnen aus der linken Tasche das (und noch mehr) genommen wird, was ihnen zuvor generös in die rechte gesteckt wurde. Selbst die FDP traut sich nicht mehr, mehr Netto vom Brutto zu fordern. Daß um uns herum inzwischen ein harter Steuerwettbewerb herrscht, den Trumps Amerika lediglich befeuert hat, ist weder bei den Bürgern noch bei den Politikern angekommen. Wir leben in einer Wohlstandsblase – ohne zu merken, daß die Luft bereits entweicht.