© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Im Sinne der Herrschaft über alles
Der polnische EU-Abgeordnete Ryszard Legutko erkennt in der liberalen Demokratie ähnlich dämonische Züge wie im Kommunismus
Michael Dienstbier

Die globale Auseinandersetzung zwischen dem kommunistisch-totalitären Osten und der liberalen Demokratie des Westens, die 1989/90 mit dem Triumph von Marktwirtschaft und Demokratie ihr Ende fand, wird heute mit gleichsam metaphysisch anmutender Inbrunst beschrieben und bewertet. Zwei Antipoden hätten sich gegenüberstanden, das Gute und das Böse repräsentierend, und schließlich sei das Reich des Guten durch seine moralische und ökonomische Überlegenheit zum Wohle der gesamten Welt als Sieger hervorgegangen. 

Gegen dieses vereinfachend-dualistische Welterklärungsmodell zog der polnische Philosoph und Politiker Ryszard Legutko – seit 2009 sitzt er für die PiS im Europaparlament – mit seinem 2012 in polnischer Sprache veröffentlichten Buch zu Felde, welches unter dem Titel „Der Dämon der Demokratie: Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften“ auch auf deutsch erhältlich ist. Kommunismus und Liberalismus seien Brüder im Geiste, so Legutko, verbunden durch ein gemeinsames Menschenbild, gemeinsame Feindvorstellungen und ein nahezu identisches Ideal einer funktionierenden Gesellschaft.

Mächtige Mechanismen der Vereinheitlichung

Dem instinktiven Widerspruch, den wohl die allermeisten Leser dieser These spontan entgegenbringen, antwortet Legutko mit einer präzisen Gegenwartsanalyse, die das Potential hat, verfestigte Denkmuster zum Wanken zum Bringen. Beiden Systemen wohne „ein mächtiger Mechanismus der Vereinheitlichung“ inne, der die Menschen zu einer amorphen Masse gleichdenkender, gleichsprechender und gleichhandelnder Genossen oder Konsumenten erziehen wolle. Zudem sei der Anspruch beider totalitär und allumfassend und dementsprechend darauf angelegt, sämtliche Bereiche einer Gesellschaft zu durchdringen. 

Unterschiedlich sei jedoch die Art dieses Zugriffs. Wo dieser in kommunistischen Gesellschaften zumeist direkt von den verschiedenen parteiabhängigen Behörden ausgegangen sei, reagierten die rechtsetzenden und rechtsprechenden Eliten in liberal-demokratischen Staaten auf den Druck von gut organisierten Partikularinteressen, um ihre Herrschaft zu legitimieren und – durch den erwarteten Zuwachs an Wählerstimmen – zu perpetuieren. Diese sogenannte „Gleichstellungspolitik“ erlaube es praktischerweise zudem, direkten Zugriff auf die Institutionen zu gewinnen, in denen die Beharrungskräfte am größten und die zentraler Ort von Traditionsweitergabe und Wertevermittlung seien: Kirche, Familie und Schule. 

Sowohl Kommunismus als auch liberale Demokratie sähen in diesen drei Institutionen die größte Gefahr für ihren Herrschaftsanspruch und versuchten, diese unter ihre Kontrolle zu bringen – hier durch direkte staatliche Kontrolle und permanente Überwachung, dort durch ständiges „Reformieren“ und „Weiterentwicklen“, bis auch noch der allerletzte Rest von Tradition als reaktionär, der Respekt vor Autorität als faschistisch und die Anerkennung gesellschaftlicher Hierarchien als schlimmer Verstoß gegen den egalitären Zeitgeist gebrandmarkt wird. 

Wie im Kommunismus sei es auch heutzutage die Sprache, derer sich das neue Denken zuerst zu bemächtigen versucht. Das allgegenwärtige Gendersternchen und Begriffsumkehrungen – beispielsweise das Verschwinden des Begriffs „Pflicht zur Assimilation“ zugunsten von „Anspruch auf Teilhabe“  – sind nur zwei Beispiele des orwellschen Neusprechs im 21. Jahrhundert.

Legutkos Unbehagen ob der aktuellen Entwicklung in Europa durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Seine Analyse der strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Systemen ist fundiert und aufgrund vieler konkreter Beispiele sehr anschaulich. Vorschläge, wie – oder ob überhaupt – unser derzeitges System zu verbessern sei, unterbreitet er jedoch nicht. An einer Stelle sagt er wie nebenbei, daß es natürlich vorzuziehen sei, in einer liberalen Demokratie als im Kommunismus zu leben. 

So kann man wohl davon ausgehen, daß Legutko als Politiker der nationalkonservativen PiS ein demokratisch-marktwirtschaftliches Europa souveräner Nationalstaaten anstrebt, welches sich dem derzeit dominierenden überstaatlichen Internationalismus – eine weitere Gemeinsamkeit von liberaler Demokratie und Kommunismus – entgegenstellt. Gerade vielen Euphorikern für die „Vereinigten Staaten von Europa“ führt Legutko vor Augen, daß nichts im Leben alternativlos ist – am wenigsten politisch-ökonomische Projekte.

Ryszard Legutko: Der Dämon der Demokratie. Totalitäre Strömungen in liberalen Gesellschaften. Karolinger Verlag, Wien 2017, gebunden, 192 Seiten, 23 Euro