© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

„Bin ein düstrer Niemand diesem Land“
Lyrik: Eine neue Anthologie aus dem Werk des österreichischen Dichters Josef Weinheber
Günter Scholdt

Anläßlich des 125. Geburtstags von Josef Weinheber erschien Ende des Jubiläumsjahres 2017 die Anthologie „Ich werde wieder sein, wenn Menschen sind“. Als erste philologisch fundierte Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk verdient sie fraglos Aufmerksamkeit. Bietet sie doch eine preiswert zu beschaffende Textbasis zum Kennenlernen des Dichters wie zur Versachlichung der polemischen Diskussion um ihn. Zuvor waren im Buchhandel außer den humoristischen Versen von „Wien wörtlich“ und „O Mensch, gib acht“ nur mehr einzelne Bände der Gesamtausgabe beziehbar.

Herausgeber ist der Wiener Germanist Christoph Fackelmann, Vizepräsident der Weinheber-Gesellschaft und Editor der wissenschaftlichen Briefedition: ein umsichtiger, äußerst akribischer Philologe, dessen Leistung zusätzlich in der zweiten Hälfte des Bandes evident wird. Sie enthält ein klug abwägendes Nachwort und eine durch Zitate bereicherte Chronik über Weinhebers Leben und Werk im Licht neuester Quellen – zusammen also eine gut 90seitige biographische Einführung in eine bemerkenswerte Schriftstellerexistenz. Hinzu kommen Verzeichnisse und Hinweise zur Text- und Publikationsgeschichte der abgedruckten Gedichte.

Deren in zehn Gedichtkreisen rubrizierte Auswahl zielt auf Repräsentativität. Sie schöpft dabei aus bislang Unpubliziertem ebenso wie aus den seinerzeit berühmten  Konzeptsammlungen „Adel und Untergang“ (1934), „Wien wörtlich“ (1935), „Späte Krone“ (1936), „Kammermusik“ (1939) oder „Hier ist das Wort“ (1944/47). Ein Anhang enthält ergänzend (unveröffentlichte) Textproben aus der frühen Schaffensperiode sowie der politischen Auftragshymnik zwischen 1934 und 1940. 

Erfahrbar wird durch diese Edition Weinhebers formale und thematische Spannweite. Denn der Blick beschränkt sich nicht auf den Werkteil, der dem aktuellen Zeitgeist wohl am fernsten steht: auf streng klassizistisch konstruierte Gedichtzyklen, getragen von Pathos, archaischer Bildlichkeit und einem missionarisch vertretenen Dichter- und Kunstanspruch. Auch zentrale poetische Bezüge auf Leid, Schuld, Tod, Pflicht, Ordnung, Volk und Mann, Heroismus, Freiheit, Untergang bedienen heutige Lyrik-Trends wenig, wenn sie nicht gar unter Ideologieverdacht stehen. Das gilt selbst für „Zeitloses Lied“, „Späte Krone“¸ „Dem kommenden Menschen“ oder dem bitter-sarkastischen „Hofkabinett in Ottakring“. 

NS-Kulturpolitik wies ihm eine Propaganda-Rolle zu

Solche (teils ahistorisch urteilenden) Kunstrichter seien auf den anderen Weinheber verwiesen, dessen tief pessimistisches Menschenbild durch bemerkenswert eingängige Verse austariert wurde. Dabei überrascht, mit welcher Virtuosität er auch leichte Genres beherrschte („Der Gedankenstrich“, „Schlanke Flöte“, „Stiefelknecht und Wetterhahn“). Lebenslange, teils lautsymbolische Sprachexperimente mündeten – siehe „Kammermusik“ – etwa in der Imitation musikalischer Formen.

Es finden sich weltliterarische Gedicht-Adaptionen neben satirischer Zeitkritik („Der Pseudoheroiker“, „Der Präsidialist“) oder humoristischen Mundarttexten („Beim Heurigen“, „Die Landpartie“). Hohe Formkunst verbindet sich mit sinnlicher Anschaulichkeit („Im Grase“; „Sonnenblume“, „Kirchenplatz in Tarascon“). Auch Ironie fehlt nicht („Magisches Rezept“) respektive Selbstironie („Ach ich Österreicher“). Als Heimatdichter im besten Wortsinn zeigt sich Weinheber in „Wien wörtlich“ („Hymnus auf den Kahlenberg“). Und wo wurde je so sanft und unaggressiv für die ländliche Heimat geworben wie in „Kirchstetten“? 

Warum behandeln heutige Literaturhistoriker dennoch diesen großen Dichter Österreichs vielfach so stiefmütterlich, hart an der Grenze zur Dekanonisierung? Warum gibt es auf tagespolitischer Ebene immer wieder Versuche, einen nach ihm benannten Platz umzubenennen, Weinheber-Büsten oder seine Ehrenmitgliedschaft in der Akademie der Bildenden Künste anzufechten? Welche literarische Todsünde hat er begangen, oder welche Intoleranz verfolgt ihn noch postum?

Ursache ist sein Verhalten im Dritten Reich beziehungsweise die gewichtige Propaganda-Rolle, die ihm die NS-Kulturpolitik zuteilte. Wie Hunderte Autoren erlag auch er der Verführung des Regimes, einer gewissen Blindheit und einer Herrschaftstechnik von Zuckerbrot und Peitsche. Ein Dutzendschicksal also und zugleich ein Fall im doppelten Wortsinn, exemplarisch für die seit dem 20. Jahrhundert epidemisch gewordene Vereinnahmung von Autoren durch die Politik. Hinzu kamen besondere Umstände seines Lebens, das der Tragik gewiß nicht entbehrte. 

Geboren am 9. März 1892 in der Wiener Vorstadt Ottakring als Sohn eines Fleischers und einer Näherin. Armut und Einsamkeit bestimmen die Jugend: Trennung der Eltern, Vollwaise bereits mit zwölf Jahren. Traumatische Erlebnisse in einer Korrektionsanstalt für verwahrloste Kinder und einem Waisenhaus. Gelegenheitsjobs und Erfahrung der Deklassierung. Er kompensiert alles durch eine überhöhte Gegenwelt: „Über alle Maßen liebte ich die Kunst.“ Davon zeugen Texte wie „Das reine Gedicht“ oder „An Sappho“.

Autodidaktisch studiert er alte Sprachen und Literaturen und adaptiert Karl Kraus’ „Sprachgewissen“. Von 1911 bis 1932 arbeitete er als Postbediensteter. In der Wirtschaftskrise wird er abgebaut. Im Schriftstellerberuf bleibt er bis zu seinem 42. Lebensjahr weitgehend erfolglos. Dies bestätigt ihn in seiner trotzigen Frontstellung zur Zeit und einer an der Stoa oder Schopenhauer orientierten Haltung. Zudem fehlt es lebenslang nicht an Depressionen, Nerven- und Beziehungskrisen. Der Alkoholismus wird chronisch. Weinheber stirbt am 8. April 1945 durch Morphium.

Selbstporträts angesichts von Schuld und Verstrickung

Die Zäsur schlechthin in seiner Schriftsteller-Existenz erfolgt 1934, als ihn die begeisterte Aufnahme von „Adel und Untergang“ schlagartig in die erste Reihe der Poeten katapultiert – unter wesentlicher Förderung der NS-Kulturpolitik. Ohnehin sympathisiert Weinheber bereits seit den frühen Dreißigern mit gesamtdeutschen Kräften, wenngleich er sich als österreichisches Mitglied der NSDAP schnell als unzuverlässiger Kantonist erweist. Immerhin erfüllt er durch Festgedichte und Erklärungen nolens volens offizielle Erwartungen. Er tut es trotz etlicher Bedenken und Erfahrungen bei Lesereisen im Reich, trotz verschiedener Zusammenstöße mit NS-Führern und sich mehrender Skrupel, die er mit Wein betäubt.

Man darf seine Schwäche nicht verschweigen. Aber wie selbstverständlich zu erwarten, daß er sich just in dem Moment distanziert, wo erstmals in seiner Karriere Ruhm, Geld oder Einfluß winken und Resistenz Lebensgefahr birgt, hat seitens der heute so überaus konformen Philologen-Generation auch etwas Pharisäisches. Weinheber jedenfalls litt unter mancher Auftragsarbeit. Auch von solchen Seelenkämpfen zeugen zwischen 1938 und 1944 verfaßte radikale lyrische Selbstbildnisse wie „Ghasel“, „Als ich noch lebte“, „Der Leichnam“, „Böse Verzauberung“, „Mit fünfzig Jahren“ oder „Ich werde dichten, wenn ich nicht mehr dichte“. Sie pendeln zwischen Apologie und rückhaltloser Anklage wie in Versen von 1942:

„Vielleicht, daß einer spät,/ wenn all dies lang’ vorbei,/ das Schreckliche versteht,/ die Folter und den Schrei – /und wie ich gut gewollt / und wie ich bös getan;/ der Furcht, der Reu gezollt/ und wieder neuem Wahn“.

Gerade diese ergreifenden Selbstporträts angesichts von Schuld und Verstrickung gehören zu Weinhebers stärksten poetischen Leistungen und erinnern an beste Katakomben-Lyrik der Inneren Emigration. Wenigstens sie, im Verein mit den oben genannten gewiß nicht kontaminierten kleinen Kunstwerken, hätten Weinheber im literarhistorischen Pantheon Österreichs einen selbstverständlichen Platz sichern müssen und nicht nur einen Notsitz.

Die jetzige Praxis macht den Fall Weinheber auch zu einem der etablierten Germanistik, in ihrer Weigerung, andere als gegenwartspolitische Kriterien zu berücksichtigen. Sie verhält sich damit übrigens literaturpäpstlicher als seinerzeit Marcel Reich-Ranicki, der immerhin vier Weinheber-Gedichte in seinen „Kanon deutscher Lyrik“ aufgenommen hat.

„Ich wollte meinem Land die Sprache wahren / und bin ein düstrer Niemand diesem Land“, bilanzierte Weinheber Ende seines Lebens. Hoffen wir, daß sein spätes Fazit nicht das letzte Wort in dieser Sache bleibt.






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Historiker. Zuletzt publizierte er  „Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen“ (Schnellroda 2017; JF 27/17)

Christoph Fackelmann (Hrsg.): Ich werde wieder sein, wenn Menschen sind. Auswahl aus dem lyrischen Gesamtwerk von Josef Weinheber. Kyrene Verlag, Wien 2017, gebunden, 352 Seiten, 22,50 Euro