© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Die Tragödie wird deutlich
25 Jahre „Anschwellender Bocksgesang“: Wie der Dramatiker Botho Strauß eine Großdebatte auslöste
Michael Wiesberg

Am 8. Februar 1993 erschien im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Essay des Schriftstellers und Dramatikers Botho Strauß, der ein publizistisches Echo finden sollte, wie es zuvor und auch danach selten erreicht wurde. Der Titel dieser inhaltlich hochkomplexen Publikation – „Anschwellender Bocksgesang“ – ist, erstaunlich genug für einen Autor, der dem Leser den Zugang zu seinem Werk alles andere als leicht macht, zu einer Art geflügeltem Wort geworden.

Auch für den Autor selbst wurde der „Bocksgesang“ zu einer markanten Zäsur, die der Germanist Stefan Willer in seiner im Jahre 2000 erschienenen Einführung in das Werk von Botho Strauß treffend auf den Punkt gebracht hat: Jede „auch nur oberflächliche Beschäftigung mit dem Schriftsteller Botho Strauß“ sehe sich „mit einer Formel konfrontiert, die Standard-assoziation, Etikett und Drohwort in einem ist: Anschwellender Bocksgesang“.

Dieser Befund ist deshalb bemerkenswert, weil bei Erscheinen des Essays wohl nur den allerwenigsten der Bedeutungszusammenhang dieses Titels bewußt gewesen sein dürfte. „Bocksgesang“ oder „Gesang um den Bocks­preis“ ist die deutsche Übersetzung des altgriechischen Wortes „Tragödie“, die durch den schicksalhaften Konflikt der Hauptfigur gekennzeichnet ist. Die enigmatische Aufladung des Titels kommt indes nicht von ungefähr. Wie kaum ein anderer Autor bedient sich Strauß des Mittels der Verrätselung, um dem Leser ein allzu schnelles, voreiliges Verständnis seiner hochkomplexen Texte zu verlegen und damit zum Nach-Denken anzuregen.

Im Fall des „Bocksgesangs“ dominierte dessenungeachtet, vor allem in der ersten Welle der Auseinandersetzung um seinen Spiegel-Essay, der Reiz-Reaktions-Mechanismus. Zu provokant, ja skandalös erschienen der „kritisch-sozialen Intelligenz“ die Straußschen Bekenntnisse, mit denen er sich als „rechts“ zu verorten schien. „Rechts zu sein“, so befand Strauß nämlich unter anderem, „nicht aus billiger Überzeugung, sondern von ganzem Wesen, das ist, die Übermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsbürger, die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen, aufgeklärten Verhältnisse, in denen er sein gewöhnliches Leben führt.“ Die „Übermacht einer Erinnerung zu erleben“ sei ein „Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will“.

Entsprechend scharf fiel Strauß’ Absage an die deutsche Nachkriegsintelligenz und ihre „Thersites-Kultur“ aus. Thersites, eine Figur aus Homers „Ilias“, aus niedrigem Geschlecht stammend und von der Oberschicht verachtet, war der häßlichste Mann, der vor Troja kämpfte. Kennzeichen der deutschen „Thersites-Kultur“ seien die „Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität“. Strauß prophezeite, zwischen „den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens“ werde es Krieg geben (siehe Kasten).

Das linkskritische Juste milieu schlug auf genau die Weise zurück, die zu erwarten war. Der Dichter und erfolgreiche Theaterdramatiker Botho Strauß, bis dahin über Jahre hinweg von der Kritik gefeiert, eine „Kultfigur der kleinen deutschen Literaturwelt“, wie ihn der Literaturkritiker Volker Hage nannte, geriet in einer ersten Phase der Auseinandersetzung in einen Tsunami medialer Empörung. Diese gipfelten in persönlichen Invektiven, befand doch zum  Beispiel Peter Glotz, es handele sich bei Strauß um einen „gefährlichen Wirrkopf“. Und für Tilman Spengler war Strauß schlicht ein „Säer neuen Unrats“.

Nach dem Abebben dieser ersten Welle wurde in einer zweiten Phase versucht, den „Bocksgesang“ im Kontext des Straußschen Werkes zu deuten; die wichtigsten Wortmeldungen können in den Mitte 1994 publizierten „Weimarer Beiträgen“ (2/1994) nachgelesen werden. Das letzte Stadium der Auseinandersetzung bildete die Diskussion um den von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ (1994), die allerdings schon mehr um das Phänomen des Entstehens einer „Neuen Rechten“ beziehungsweise das, was man dafür hielt, kreiste. 

In einer Replik auf seine Kritiker, mehr als ein Jahr nach Erscheinen des „Bocksgesangs“, stellte Strauß im Spiegel klar, daß „rechts“ für ihn der „gegenrevolutionäre Typus von Novalis bis Borchardt“ sei; er selbst hat einige Male nahegelegt, daß er eher mit der Figur des „Reaktionärs“ sympathisiert. Direkt von Michael Klonovsky darauf angesprochen, antwortete Strauß aber sibyllinisch: „Bin ich einer oder nur manchmal einer? Wer weiß.“ 

Es war im übrigen nicht Strauß allein, der 1993 für heftige mediale Eruptionen sorgte. Auch Hans Magnus Enzensberger („Aussichten auf den Bürgerkrieg“) und Martin Walser („Deutsche Sorgen“) provozierten im Juni mit Essays Erregungswellen und schienen für einen Rechtsruck ehemals linker oder linksliberaler Schriftsteller zu stehen. Der Spiegel, wo sie erschienen, kokettierte damit, „eine Reihe von Tabuverletzungen deutscher Intellektueller“ angestoßen zu haben, die die „tiefe Irritation der deutschen Linken“, die nach dem „abrupten Ende der wohlgeordneten bipolaren Ost-West-Welt“ Ausschau nach neuen Werten und Orientierungen hielten. 

Aus deutscher Sicht war diese Phase nicht nur durch die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit oder die Renaissance der nationalen Frage im Zuge der Wiedervereinigung, sondern auch durch die Übergriffe auf Asylbewerber wie in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992) oder Mölln (1992) geprägt, die als Folgen rechtsextremistischen Denkens gebrandmarkt wurden. Neben Strauß war es vor allem Martin Walser, der in diesen Übergriffen auch die Konsequenzen der „Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle“ beim Namen nannte. „Könnte es nicht sein“, so Walser im Spiegel, daß „die erbärmlich stammelnde Pubertät, die von allen guten Geistern verlassen ist und sich nur mit Brandsätzen und Gebrüll ausdrücken kann“, (…) „unsere Kinder sind“?

Strauß deutete die rechtsextremistisch motivierte „parricide-antiparricide Aufwallung in der zweiten Generation“ und deren „Tabuverletzungen“ als Fortsetzung der Ablehnung der Vätergeneration, wie sie von den 68ern propagiert wurde, diesmal indes „unter umgekehrtem Vorzeichen“, nämlich als Ablehnung der antifaschistischen Vätergeneration. 

Nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers Bernhard Greiner ging es Strauß unter anderem darum, Entsorgungsstrategien der NS-Vergangenheit deutlich zu machen. Eine dieser Strategien bestehe darin, sich vom Unheil indirekt zu distanzieren, indem es auf „rechtsradikale“ oder „autoritäre Erscheinungen der Jetztzeit“ projiziert und zur Legitimierung der eigenen (antifaschistischen) Politik herangezogen werde.

Verstanden wurden diese Tiefendimensionen des Straußschen Essays weder links noch rechts. Rechts nicht, weil hier die Auffassung vorherrscht, die „Erschütterung“ über die Verbrechen der NS-Zeit müßte einmal „abgearbeitet“ sein. Links (bis hin in die Mitte) nicht, weil hier alles, was als deutsche Selbstbehauptung oder Bewahrung einer Substanz des Deutschen ausgelegt werden könnte, entweder als Beschreiten eines gefährlichen deutschen „Sonderweges“ denunziert wird, der schon einmal in die Katastrophe geführt habe, oder als Ausdruck von „Deutschtümelei“ verschwefelt wird.

Die Konsequenzen dieser Unheilsprojektionen lassen heute, 25 Jahre nach dem „Bocksgesang“, die Konturen der von Strauß prognostizierten „künftigen Tragödie“ deutlicher werden. Diese könnte im allmählichen Verschwinden der Deutschen als geschichtlich gewachsener Entität liegen.






Michael Wiesberg referiert über Botho Strauß’ „Bocksgesang“am 7. Februar in der Berliner Bibliothek des Konservatismus.

 www.bdk-berlin.org

Michael Wiesberg: Erinnerung als Dich-terpflicht. 25 Jahre „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß. Band 6 der Schriftenreihe „Erträge“ der Bibliothek des Konservatismus, Berlin 2018, broschiert, 106 Seiten, 9,95 Euro





Auszug aus dem „Bocksgesang“

Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.

Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen könnte, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat, da hier das „Machbare“ am wenigsten an eine Grenze stieß. Es ist gleichgültig, wie wir es bewerten, es wird schwer zu bekämpfen sein: daß die alten Dinge nicht einfach überlebt und tot sind, daß der Mensch, der einzelne wie der Volkszugehörige, nicht einfach nur von heute ist. Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben. (…)

Die Hypokrisie der öffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte (wo nicht betrieb): die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität, sie darf sich nicht wundern, wenn ihre Worte in der Not kein Gewicht mehr haben.

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