© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Flüchten nach Stuttgart
Wohnungsmarkt: Migranten sind von der Wartefrist befreit, da sie den „Unterkunftsort nicht freiwillig wählen“
Christian Schreiber

In der baden-württembergischen Landeshauptstadt herrscht Wohnungsnot, vor allem was die Verfügbarkeit von Unterkünften für Bedürftige angeht. Wer eine Sozialwohnung will, muß mindestens drei Jahre in Stuttgart „Aufenthalt“ haben und „mindestens 25 Jahre alt“ sein, bis er auf die vorgesehene Warteliste darf. Für Einwanderer gilt diese Residenzpflicht nicht.

Altersgrenze und Wartefrist seien „für diejenigen Menschen, die im Rahmen eines Zuweisungsverfahrens in die Landeshauptstadt gekommen sind“, ausgesetzt, beschloß die Stadtverwaltung. Der Stuttgarter Finanzbürgermeister Michael Föll (CDU) verteidigte in der vergangenen Woche die bestehende Regelung und sagte der Stuttgarter Zeitung: Die Stadt praktiziere dies bereits seit den neunziger Jahren. „Ich halte die Regelung sowohl für rechtssicher als auch für angemessen.“ Man sei aber in erster Linie „den Bürgern der Landeshauptstadt verpflichtet, nicht anderen“, versicherte Föll.

Weitere Verknappung des Wohnungsmarktes erwartet

Die sogenannte Dreijahresfrist ergibt sich aus den „Richtlinien für die Vormerkung von Wohnungssuchenden.“ 4.223 Haushalte stehen nach einem Bericht der Stuttgarter Nachrichten auf der Vormerkdatei. Im Jahr 2011 waren es noch 2.834. Besonders in jüngster Vergangenheit sei der weitere Anstieg aber fast ausschließlich auf Migranten zurückzuführen, die in der Stadt untergebracht wurden. Aufgrund verzögerter Verfahren seien momentan weniger als 200 Flüchtlingshaushalte auf der Warteliste registriert.

Die Flüchtlingszahlen spielten bisher kaum eine Rolle, sondern vielmehr die hohe Nachfrage, der schleppende Neubau und der Abriß preiswerter Altbauwohnungen auch durch die städtische Wohnungsbaugesellschaft SWSG.

Für die Stadt mit 625.000 Einwohnern, in deren Metropolregion über fünf Millionen leben, erwartet Föll, daß die Zahl der Haushalte, die nach einer Sozialwohnung suchen, zunehmen wird. „Die Vormerkdatei wird 2018 mutmaßlich um weitere 500 Haushalte anwachsen.“

Stuttgart gehe davon aus, daß die Flüchtlinge, die derzeit in Gemeinschaftsunterkünften leben, in den kommenden Jahren auf dem Wohnungsmarkt aktiv würden, sobald deren Residenzpflicht von ebenfalls drei Jahren abgelaufen sei. 

Wie die Stuttgarter Nachrichten berichteten, hegen die Stadtoberen die Sorge, daß sich beim Wegfall der Residenzpflicht für Otto Normalbürger Wohnungssuchende aus dem Umland vermehrt um Sozialwohnungen in Stuttgart bemühen würden. „Wir wollen den Mangel nicht noch vergrößern“, sagte Föll. Mit Blick auf die Lage der Flüchtlinge sagte er: „In einem solchen Fall wurde der Wohnort ja nicht freiwillig gewählt.“ 

Auch in Frankfurt am Main gibt es eine Wartefrist – allerdings von nur einem Jahr. Die Vergabe der Wohnungen erfolge aber nach „Dringlichkeit und Wartezeit der Bewerber auf der Vormerkliste. Unterschiede zwischen Flüchtlingen und anderen Personenkreisen“ werden nicht gemacht, schreiben die Stuttgarter Nachrichten. Zudem gibt es in Frankfurt einen „Bezug zur Stadt“ nachzuweisen, um schneller an eine Wohnung zu kommen. Dazu zählen ein Arbeitsplatz oder Verwandtschaft in der Mainmetropole. In Hannover besteht ebenfalls eine Residenzpflicht für Mieter, allerdings werden nur sechs Monate verlangt. In München wurde eine derartige Frist jüngst abgeschafft.

Abschaffung der  Residenzpflicht gefordert

Der Stuttgarter Mieterbund DMB forderte nun auch die Abschaffung der dreijährigen Residenzpflicht. „Die Stadt sollte die Residenzpflicht aufheben“, zumindest für Familienangehörige oder Personen mit Jobangebot, erklärt der Vorsitzende des Vereins, Rolf Gaßmann.

„Angesichts der angespannten Wohnungsmärkte und der hohen Sozialkosten können die Ballungszentren einen weiteren Flüchtlingszustrom nicht verkraften“, erklärte der Großstadtbeauftragte der Unionsfraktion im Bundestag, Kai Wegner, gegenüber der Wochenzeitung die Zeit.

Eindeutig besser seien die Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge „in ländlichen Regionen, da der Wohnungsmarkt weitaus entspannter ist und gerade in den dezentralen Orten häufig Wohnungsleerstand herrscht“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung.

 www.freundeskreis-fluechtlinge-stuttgart-west.de

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