© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Ländersache: Rheinland-Pfalz
Erst das Fressen, dann die Moral
Paul Leonhard

Durch die Innenstadt von Trier streunt dieser Tage ein alter Mann mit weißem Bart und zottliger Mähne. Es ist kein verspäteter Nikolaus, sondern ein Kinderschreck von ganz anderer Qualität, in dessen Rolle der frühere Lehrer Michael Thielen geschlüpft ist. Und weil man im Rheinischen Landesmuseum nicht nur die Tage bis zum großen Showdown am 5. Mai zählt, der Eröffnung der Landesausstellung „Leben. Werk. Zeit.“, sondern das Großereignis auch überall plakatiert hat, weiß jedes Kind, wer dieses Gespenst sein soll: Karl Marx.

Ein ganzes Jahr hat der Stadtrat dem vor 200 Jahren in Trier geborenen Philosophen und Politökonomen gewidmet. Das Stadtmuseum Simeonstift informiert über den Menschen Marx und seine Familie, seine Aufenthaltsorte und wichtige Weggefährten. Das Museum am Dom des Bistums Trier zeigt eine Auswahl zeitgenössischer Kunst zum Themenfeld Arbeitswelt und Menschenwürde. Das von der Friedrich-Ebert-Stiftung betriebene Museum im Geburtshaus des Philosophen präsentiert eine neu konzipierte Dauerausstellung. Außerdem gibt es Vorträge, Kongresse, Filmvorführungen, sogar ein Musical.

Weitgehend ausgespart bleibt die Wirkungsgeschichte des Marxismus und damit die unvorstellbaren Verbrechen, die seine Anhänger insbesondere in der Sowjetunion und China begangen haben.Für die Karl-Marx-Stadt Trier offenbar ein zu vernachlässigender Kollateralschaden. Wie anders läßt sich erklären, daß man sich von einem der letzten verbliebenen sozialistischen Regime eine 2,3 Tonnen schwere, bronzene Marx-Figur schenken läßt, die künftig überlebensgroß über die Einwohner von Trier und die in die Stadt strömenden Chinesen hinwegblicken wird.

Mit mehr als 50.000 chinesischen Touristen rechnet ein Stadtsprecher in diesem Jahr. Das Hotel- und Gaststättengewerbe kalkuliert mit Mehreinnahmen von fünf bis 20 Prozent, Industrie und Handel hoffen auf Investoren aus China. Aus dem untoten Autor des „Kapitals“ wollen die Stadtväter in bester kapitalistischer Manier richtig Kapital schlagen.

Und als echte Kaufleute interessieren sie dabei weder die kommunistischen Verbrechen noch die aktuelle Menschenrechtssituation in China. Die AfD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz, die auf beides aufmerksam gemacht hat und eine naive Verklärung des Jubilars geißelt, gilt ebenso als Spielverderber im großen Business. Der antitotalitäre Konsens, der für alle Demokraten gelten müsse, gebiete eine kritische Betrachtungsweise von Karl Marx, hatte Joachim Paul, bildungspolitischer Sprecher der AfD-Landtagsfraktion gemahnt und auf die „Verbindung zwischen dem Kommunistischen Manifest 1848 und den kommunistischen Verbrechen im 20. Jahrhundert“ mit vielen Millionen Toten hingewiesen. Sein Kollege Martin Schmidt sprach von „geistigen Kontinuitätslinien der Demokratiefeindlichkeit und Gewalt“, die von Marx ausgingen. 

In Trier stoßen diese Bedenken auf Unverständnis. Man möchte Marx, befreit vom ideologischen Ballast. Und natürlich habe man den Marx-Doppelgänger nur gebucht, weil „wir es sehr charmant finden, daß Herr Thielen dem alten Karl Marx so ähnlich sieht“, wie Ann-Kathrin Reichenbach, Sprecherin der Landesausstellung, der dpa verriet, und nicht weil der von sich behauptet: „Ich war eigentlich schon immer Marxist.“