© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Massive Konflikte
Mord in der Schule: So wenig absehbar, wie behauptet, war die Tat offenbar nicht
Hinrich Rohbohm

Ein zerknittertes Blatt weißes Papier, eingepackt in eine Klarsichthülle. Zwischen die Gitterstäbe des grünen Metallzaunes geschoben, der die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Lünen umgibt. Nur ein Wort steht dort geschrieben. „Warum?“ 

Gemeint ist die unfaßbare Tat des 15 Jahre alten Alex M., der am Dienstag voriger Woche den 14jährigen Leon H. mit einem Messerstich in den Hals tötete. Alex M. wartete mit seiner Mutter auf eine Sozialarbeiterin. In seiner Vernehmung bei der Polizei gab der Jugendliche später an, Leon habe seine Mutter mehrfach provozierend angesehen, wodurch er sich gereizt gefühlt und anschließend auf sein Opfer eingestochen hatte.

Lünen, Landkreis Unna, keine zehn Kilometer nördlich von Dortmund, 85.000 Einwohner. Die Tat bewegt die Stadt. Vor dem Eingang der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule stehen zahlreiche Kerzen. Fußbälle und BVB-Schals liegen als Gesten der Anteilnahme für den Borussia-Dortmund-Fan Leon zusammen mit Blumen und Abschiedsbriefen von Mitschülern auf dem Boden.  

„Warum kann der so ohne weiteres mit einem Messer in die Schule kommen? Hat die Mutter denn gar nichts bemerkt?“ fragt sich eine Anwohnerin im Gespräch mit der JF. „Die Lehrer in der Schule müssen doch mitbekommen haben, was das für einer ist. Warum hat man da nicht viel früher reagiert?“ empört sich ein anderer. 

Die Schulleitung reagiert mit einer Mitteilung an Schüler und Eltern. „Es handelte sich um eine schreckliche Einzeltat, die nicht absehbar war“, heißt es darin. War sie das wirklich nicht? Wer ist Alex M.? Galt er als gefährlich, als gewalttätig? In den Medien wird der Deutsch-Kasache als „unbeschulbar“ beschrieben. Er war an eine andere Schule überwiesen worden. Doch auch dort war seine Integration in den Unterrichtsbetrieb gescheitert. Der Polizei ist er lediglich aufgrund einer Sachbeschädigung bekannt. Die Schulleitung blockt ab, will sich öffentlich nicht äußern. „Es ist alles dazu gesagt“, meint der stellvertretende Schulleiter Sascha Westermann gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Recherchen ergeben jedoch, daß der Täter seit geraumer Zeit intensiven Kontakt ins Drogenmilieu hatte. 

„Die Dealer am Bahnhof hatten ihn unter ihre Fittiche genommen“, sagt Patrick (Name von der Redaktion geändert). Der Realschüler kennt Alex M., beschreibt ihn als extrem aufbrausend und gewalttätig. „Alex ist einer, der schnell auf hundertachtzig ist.“ Mit Leon H. hatte er sich schon früher „gezofft“. „Aber Alex ist jemand mit großer Klappe, wo nichts dahintersteht.“ Auch Patrick war schon mal mit Alex aneinandergeraten. „Doch in meinem Fall war es nur bei einer Rempelei geblieben, der hatte zu große Angst vor meinem älteren Bruder.“ 

„Der spricht kein Wort Russisch“

Auch Leon sei dem Täter körperlich überlegen gewesen. „Deshalb wohl auch das Messer, damit fühlte er sich wohl sicherer.“ Seine Freunde hätten ihn stets Alex genannt, seine Mutter habe ihn jedoch mit Alexander angesprochen. Patrick war auch von der Polizei befragt worden. An einen religiösen Hintergrund glaubt er allerdings nicht. Auch der Migrationshintergrund komme für ihn nicht als Ursache in Frage. „Der spricht kein Wort Russisch.“ Der Deutsche mit kasachischen Wurzeln heiße zudem in Wirklichkeit nicht Alex M., sondern Alex I. „Die Polizei hat für ihn einen anderen Nachnamen gewählt, um seine Identität zu decken“, erzählt er. Ein Freund von ihm hatte die Tat aus unmittelbarer Nähe miterlebt. „Er hatte gesehen, wie Leon Blut spuckte. Er sagte mir, es war ein ziemlich qualvoller Tod.“

Die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule verkauft sich als Institution, „in der alle Kinder willkommen sind, gern miteinander leben und voneinander lernen“. Fremdenhaß und Diskriminierung würden an der Schule keine Chance haben. Schließlich trage sie den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. 

Patrick L. kann darüber nur lachen. Der Ausländeranteil an der Schule dort sei „extrem hoch.“ In der Klasse eines Freundes von ihm seien lediglich fünf von 30 Schülern Deutsche gewesen. Immer wieder habe es massive Konflikte gegeben. Leute wie Alex M., die sich am Bahnhof mit Drogendealern treffen, seien keinesfalls Einzelfälle.  Ob Alex M. selbst mit Drogen gehandelt oder welche konsumiert habe, wisse er nicht. „Aber er hatte ständig mit diesen Typen abgehangen. Das sind Leute, die etwa zwei bis drei Jahre älter sind als er, zumeist Türken, Araber und Libanesen.“ Treffpunkt sei stets ein Fahrradstand nahe den Bahngleisen gewesen. „Da wird dann zwischen den Büschen gedealt“, erzählt Patrick.

Am Bahnhof von Lünen erhalten wir dafür eine Bestätigung. „Ja, der war oft hier“, sagen gleich mehrere in einer Gruppe zusammenstehender Jugendlicher in unmittelbarer Nähe des Busbahnhofs. Auch sie kennen Alex M. Schockierend: Einige von ihnen sympathisieren sogar mit ihm und seiner Tat, sollen auf der Internetplattform Instagram „Free Alex“ gepostet haben. Beim Thema Drogen herrscht dagegen eisiges Schweigen. Niemand möchte mehr reden. Die Stimmung wird plötzlich extrem angespannt. Es ist eine abgeschottete Parallelwelt. 

„Hier gibt es ja auch kaum noch Freizeitangebote für Jugendliche“, meint die etwa 60 Jahre alte Betreiberin einer Gastronomie. Der einst vorhandene Jugendtreff unmittelbar neben der Schule sei schon lange geschlossen, schildert sie. Ihre in dem Wirtshaus sitzenden Gäste nicken. „Da ist es doch kein Wunder, wenn die Jugendlichen in schlechte Gesellschaft geraten“, schimpft einer von ihnen. Ein anderer fordert Waffenkontrollen in den Schulen. „Willst du etwa so ein Schulleben haben, das ist ja wie im Knast“, kritisiert ihn ein anderer dafür. Von dem Drogenmilieu am Bahnhof, von Alex M. und seinen zwielichtigen Freunden wissen sie alle nichts. Vielleicht wissen Lehrer und Polizisten mehr. Doch bisher schweigen sie.