© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/18 / 02. Februar 2018

Helmut Ziegner. Der ehemalige Offizier der NVA begleitet die Veteranen von Stalingrad
Die letzte Schar
Marc Zoellner

Was ich dort erlebt habe, war so grausam, daß ich mich nicht mehr daran erinnern möchte. Ich habe es aus meinem Gedächtnis gestrichen“, das hatte ihm, so berichtet Helmut Ziegner, einst ein Veteran der 6. Armee der Wehrmacht anvertraut. Eine Reaktion, die der ehemalige NVA-Offizier verstehen kann, denn für die letze Schar, die wenigen Überlebenden von Stalingrad, ist die Schlacht, die heute vor 75 Jahren in den Tagen vom 31. Januar bis zum 2. Februar 1943 zu Ende ging, eine tiefe Wunde in ihrer Vita.

Rüstig wirkt Ziegner, der bereits als Zwanzigjähriger die Geschichte der Schlacht, so erzählt der 1931 in Eickendorf bei Magdeburg geborene Wahl-Neubrandenburger, als Steckenpferd für sich entdeckte. Damals, 1951, traf er Helmut Welz, ehemals Major der 6. Armee, der in jenem Jahr Ziegners Ausbilder bei der Kasernierten Volkspolizei wurde, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Der junge Ziegner hatte Hufschmied gelernt, sich danach aber „wegen meiner Abenteuerlust“ zur KVP gemeldet. Dort inspirierten ihn die unglaublichen Erlebnisse, die Welz aus dem Kessel von Stalingrad zu berichten hatte, sich selbst intensiv mit dieser Tragödie zu befassen.

Über hundert Bücher zum Thema, schwärmt Ziegner im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT, füllen bereits seine Bibliothek. „Sie enthält so ziemlich alles, was dazu zu DDR-Zeiten erschienen ist.“ Dabei zeigt er stolz auf seine Sammlung. „Nach der Wende kam vieles aus den alten Bundesländern hinzu.“ Sechs der Bände in den Regalen hinter ihm hat er allerdings selbst verfaßt: Etwa „Gewissenskonflikt“, seine Erinnerungen an den Aufbau der NVA. Und „Rückblick“, selbstkritische Aufzeichnungen seiner Lebenserfahrungen als Pimpf im HJ-Jungvolk und als Offizier der NVA. Diese verließ er als Major 1967 allerdings freiwillig – die Klassenkampfrhetorik traf bei ihm auf immer mehr Widerwillen. Statt dessen machte er Karriere als Fachhochschuldozent.

Außerdem finden sich in den Regalen vier Bildbände über seine Erfahrungen mit den heimgekehrten Stalingradern. Auch diese kritisch, jedoch nicht verurteilend. Seit 2004 begleitet Ziegner ihre Veteranentreffen. Er läßt die alten Kämpfer noch einmal zu Wort kommen. Jene Wenigen, die von den 6.000 aus Stalingrad Heimgekehrten noch übrig sind – zum Treffen 2014 kamen noch fünf Mann. Im Verlag Henryk Walther publizierte Ziegner seinen trotz laienhafter Aufmachung interessanten Bildband über die Veteranen „Stalingrad. Erinnerung und Mahnung“ (bestellbar im JF-Buchdienst).

Am 31. Dezember ist Ziegner 86 geworden. „Der letzte meines Jahrgangs“, scherzt er doppeldeutig und mahnt: „Schon wieder tobt Krieg in der Ukraine. Die Lektion Stalingrad ist vergessen.“ Vielleicht hätten mehr Menschen seine Schriften lesen sollen? Traurig zuckt Helmut Ziegner mit seinen Schultern: „Weil keiner mehr nach dem Frieden sucht.“