© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

Schwanengesang aus dem Elfenbeinturm
Signal für die bevorstehende Verschärfung der Krise Europas: Der Glaubensverlust eines europäischen Spitzenbeamten
Erich Weede

Didier Modi ist ein französischer Spitzenbeamter und ENA-Absolvent, der seit 1984 den europäischen Institutionen in leitender Funktion gedient hat. Modi ist wohl ein Pseudonym und nicht der echte Name des Verfassers. Das Ausmaß seiner Enttäuschung wird gleich in der Einführung offenbar, wo er beklagt, „daß Europa nichts anderes geworden ist als die universelle Verschwörung der Lüge gegen die Wahrheit.“ 

Modi wirft den das europäische Projekt im Alltag tragenden Politikern und Beamten vor, ständig nach „illusorischen Kompromissen“ zu suchen und im „Geist nachsichtiger Verbundenheit“ dazu zu neigen, sich gegenseitig zur Mitarbeit am europäischen Projekt zu gratulieren. Man erfährt in dem Text zwar, daß Modi weder von der Griechenlandrettung noch von der Migrationspolitik der Gemeinschaft überzeugt ist, aber man wird keine Analyse der zu erwartenden Folgen konkreter Entscheidungen finden. 

Verwaltungsvereinfachung eher gepredigt als praktiziert

Stattdessen werden administrative und gesetzgeberische Prozesse in den europäischen Organen beschrieben und kritisiert. Was Modi empört, nämlich der Versuch von Amtspersonen, gleichzeitig den eigenen Machtbereich auszuweiten und die Verantwortung wegzuschieben, wird weder Kenner des inzwischen hundertjährigen ehernen Oligarchiegesetzes noch Anhänger ökonomischer Bürokratietheorien, die auch schon viele Jahrzehnte alt sind, erschüttern. Danach kann die Produktion von Normen und Regeln auch die Funktion haben, Ämter und Positionen zu rechtfertigen. Wettbewerbspolitik, Strukturfonds und Verwaltungskontrolle finden Modis besondere Aufmerksamkeit. 

Es wird gezeigt, daß Verwaltungsvereinfachung eher gepredigt als praktiziert wird, daß das angebliche Bemühen um Subsidiarität die Unterordnung nationaler Behörden unter europäische nicht behindert. In diesem Zusammenhang stört Modi besonders, daß bei den europäischen Organen nicht zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern unterschieden wird. Er bezweifelt den Sinn strenger Kontrollen bei Nettozahlern. Modis Kritik bleibt grundsätzlich bei Prozessen stehen. Er impliziert zwar negative Ergebnisse von Kosten-Nutzen-Analysen, allerdings ohne zu liefern. 

In der Detailkritik kann man ihm oft zustimmen. Es ist offensichtlich, daß die Berücksichtigung der nationalen Herkunft mit dem ernsthaften Versuch der Bestenauslese unter Bewerbern nicht kompatibel ist. Es ist auch offensichtlich, daß eine europhile Variante der politischen Korrektheit der rationalen Problemanalyse nur im Wege stehen kann. 

Für Sozialwissenschaftler ist das Werk  trotz seiner Kürze ermüdend, sogar oder gerade dann wenn man den teils konservativen, teils wirtschaftsliberalen Wertungen Modis sehr nahe steht, wenn man wie er grundsätzlich zur Rückverlagerung von Kompetenzen von der Union zu den Nationalstaaten neigt, wenn man mit ihm um die Zukunft Europas besorgt ist und die EU in ihrer gegenwärtigen Verfassung eher für ein Problem als eine Problemlösung hält. Das Werk wird gleichzeitig im französischen Original und in deutscher Übersetzung vorgelegt. Am Interessantesten an dem Buch ist das, was es über die Stimmung des Verfassers und vielleicht von Teilen der europäischen Bürokratie aussagt. 

Unter Sozialwissenschaftlern wird manchmal die These vertreten, daß politische Systeme dann besonders gefährdet sind, wenn die Herrschenden und ihr Verwaltungsstab den Glauben an ihre Mission verlieren. Sogar das Auftreten Gorbatschows und den Zerfall der Sowjetunion kann man so interpretieren. Modi ist verbittert und hat den Glauben verloren. Vielleicht hat er aus Hoffnungslosigkeit Angst, sich zu seiner nicht wirklich radikalen Kritik zu bekennen.

Didier Modi: Der europäische Albtraum. Ein Projekt wird seziert. Verlag Europolis, Berlin 2017, broschiert, 87 Seiten deutsch, 78 Seiten französisch, 13 Euro