© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/18 / 26. Januar 2018

Von der Lust des Almosengebens
Helfen als Passion
Jost Bauch

Der Mensch hat sich immer gegenseitig geholfen. Die menschliche Natur ist offensichtlich so eingerichtet, daß der Mensch neben seinen aggressiven Potentialen eben auch über altruistische Potentiale verfügt. Beide „Neigungen“ sind auch in der Frühphase der evolutionären Entwicklung des Menschen überlebenswichtig; nach außen (also außerhalb der Primärgruppe) dominieren aggressive Verhaltensdispositionen, nach innen dominiert Empathie, Altruismus und Opferbereitschaft.

Helfen funktioniert zunächst im sozialen Nahbereich. Man hilft Mitgliedern der eigenen Gruppe, der Verwandtschaft oder Bekannten. Man hilft auch fremden Menschen in akuten Notlagen. Helfen als längerfristige Unterstützung von Fremden ist dagegen äußerst selten und nur unter Sonderbedingungen der Fall.

Wie ist es nun aber zu erklären, daß im Rahmen der politisch verordneten „Willkommenskultur“ massenhaft fremden Menschen, die als politische Flüchtlinge gelten, geholfen wird? Offensichtlich geht es beim Helfen nicht nur darum, eine als defizitär wahrgenommene Lebenslage beim Hilfsempfänger auszugleichen, es geht auch darum, ein Appetenzverhalten zu befriedigen, daß dem Helfer psychologische Erleichterung verschafft (also ein Verhalten, das zielgerichtet Schlüsselreize aufsucht, die zur Auslösung einer Instinkthandlung führen). Unbedingt allen helfen zu wollen, hat somit speziell in Deutschland mit der eigentümlichen „Schuldkultur“ zu tun. Soziologisch und psychologisch gesehen ist damit der Helfer und seine Motivation viel interessanter als der Hilfsempfänger.

Bereits 1922 sprach Georg Simmel von „der Rache des Almosens für das rein subjektivistische, nur den Geber, aber nicht den Empfänger berücksichtigende Motiv seiner Gewährung“, womit eine gewisse Sinnlosigkeit und auch Beliebigkeit in der Verwendung von Gaben einhergeht. Was sie beim Empfänger anrichten, interessiert nicht, es interessiert alleine das Gefühl der Befriedigung beim Geber.

Um sich dem Phänomen des Helfens zu nähern, muß man zunächst zur Kenntnis nehmen, daß Helfen (wie jede soziale Interaktion) dem gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Man hat früher anders geholfen, als wir es heute tun. Wir wollen in lockerer Anlehnung an die Gesellschaftstypologie von Niklas Luhmann primitive, hochkulturelle und moderne Gesellschaftsformen unterscheiden.

In primitiven Gesellschaften war Helfen eine elementare Form der Konstitution des sozialen Lebens. Man half sich in Interaktionen, und diese Interaktionen bildeten gleichsam die tribalen Gesellschaftsstrukturen. Diese „helfenden“ Interaktionen waren dabei statuskonstituierend: Wer half, konnte gegenüber dem „Geholfenen“ einen höheren Sozialstatus beanspruchen. Helfen war nicht, wie in mittelalterlichen Gesellschaften, Ausfluß eines höheren Status, Helfen begründete den höheren Status. Die Dankespflichten waren unbestimmt und universell, die Reziprozität war nicht geregelt – es war nicht klar, wieviel der Hilfsempfänger in welcher Form zurückgeben mußte. Auch die zeitliche Dimension der Einlösung der Dankespflicht war nicht geregelt.

Diese Unbestimmtheit machte archaische Gesellschaften gerade in einer feindlichen Umwelt besonders stabil und anpassungsfähig. Denn die Hilfs- und Abgabepflichten konnten und mußten nur dann eingelöst werden, wenn Überschüsse vorhanden waren, und sie konnten flexibel realisiert werden als Arbeit, Unterwerfung, Prestigezuweisung oder Kampfeshilfe. 

Auf der anderen Seite mußte, gerade weil man durch Helfen seinen Sozialstatus begründete und verteidigte, viel und nach allen Seiten geholfen werden und dies immer wieder. Wenn es etwas gab, wurden Feste gefeiert und im Grunde angesammeltes Vermögen verschwendet. Das erklärt, warum es in archaischen Gesellschaften so gut wie nicht zur Kapitalbildung und zur größeren Vermögensakkumulation kommt. Die Unmittelbarkeit der Bedürfnisbefriedigung steht im Vordergrund.

Hochkulturelle (mittelalterliche) Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß sich über die archaischen tribalen Geschlechterverbände eine politische Herrschaft bildet, die über generalisierte Normvorstellungen und über eine kosmisch-religiöse Universalmoral eine eindeutige Schichtstruktur ausbildet. Helfen wird damit zunehmend trivialisiert und marginalisiert, weil das Helfen nicht mehr die Statusdifferenzen begründet. 

Für Hilfsorganisationen kann es nichts Schlimmeres geben, als wenn ihnen die Hilfssituationen und Hilfsbedürftigen ausgehen würden. Sie brauchen eine permanente Zufuhr von sozialen Klienten, die auf ausgleichende Hilfe angewiesen sind.

Es gibt auch keinen Zwang zur Reziprozität: Das Helfen wird individualisiert als „gute Tat“, und der Almosenempfänger steht im Bezug zum Geber in keiner Dankespflicht. Der Geber erwartet auch keine direkte Gegenleistung vom Beschenkten. Die Vergeltung der guten Tat erfolgt durch die Heilsversprechen der religiösen Moral; durch Anteilnahme am Schicksal des ärmeren und hungernden Nächsten verschafft man sich einen gnädigen Gott. Über den Umweg der guten Tat tut man etwas für sein Seelenheil.

Erst Luther sollte mit diesem Spuk der Werkgerechtigkeit in seinem Kampf gegen den Ablaßhandel aufräumen, denn wenn man sein Seelenheil durch gute Taten „aufpolieren“ kann, dann ist Gott erpreßbar. Nach Luther hilft man, weil man durch den Glauben ein guter Mensch geworden ist. Man erwartet letztlich nichts zurück.

In modernen Gesellschaften wird diese religiös motivierte Dankeserwartung des Helfens zurückgedrängt und marginalisiert. Neben individuellen Formen des Helfens entstehen in der Moderne „Hilfsorganisationen“, das heißt gesellschaftlich als notwendig angesehene Hilfsleistungen werden organisiert und damit speziellen Organisationen zur Dauerbearbeitung übergeben.

Mit der Transformation des Helfens auf Organisationen ist das Helfen keine Sache mehr des Herzens, der Moral oder der Gegenseitigkeit; Helfen wird zu einer organisationsinternen Entscheidung, die sich aus einem Vergleich von Tatbestand und Organisationsprogramm ergibt und eine defizitäre Lebenslage markiert. Die Hilfsorganisation legt programmatisch Hilfsbedürftigkeiten fest. Trifft für eine Person der Tatbestand der Hilfsbedürftigkeit zu, so wird kompensatorisch und ausgleichend die Hilfsorganisation tätig.

Der Hilfsbedürftige bekommt dadurch eine Art Rechtsanspruch auf Hilfe, und die organisatorisch eingebundenen Helfer helfen professionell, sie werden für ihre Hilfe von der Organisation bezahlt und honoriert. Nicht der Anblick der Not löst das Helfen aus, sondern der Vergleich von Programm und Tatbestand. Hilfsorganisationen finanzieren sich dabei durch Spenden und Steuergelder, die dann vom meist angestellten professionellen Personal an die Hilfsbedürftigen verteilt oder als Sach- und Dienstleistung erbracht werden.

Gesamtgesellschaftlich gesehen, ist Helfen zu einer Obsession geworden. Wie der früh verstorbene Udo Ulfkotte ermittelte, arbeiten in Deutschland in der sogenannten „Sozialindustrie“ über 2,3 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In der Autoindustrie sind es nur 700.000. Die „Sozialquote“ liegt heute bei 30 Prozent des Bruttosozialproduktes (für Gesundheits- und Altenvorsorge, Familienleistungen, Armen- und Behindertenfürsorge). 888 Milliarden Euro werden mittlerweile umverteilt mit stark wachsender Tendenz, auch bedingt durch die „Flüchtlingspolitik“. 12.500 Euro gibt die Bundesrepublik durchschnittlich für einen Asylbewerber aus, wobei dieses Land durch die Ungewißheit der Zuwanderungszahlen die Ausgabenzuwächse nicht kontrollieren kann.

Die Interessen der Hilfsorganisationen werden in engster Kooperation mit der Politik in gesinnungsmoralischer und humanitaristischer Ideologisierung in der Bevölkerung verbreitet und sogar als „Staatsethos“ unter das Volk gebracht. 

Hilfsorganisationen betreiben institutionalisierte Dauerhilfe. Eine Anlaßbezogenheit besteht nicht. Es ist ja gerade ein Vorzug der gesellschaftlichen Organisationsbildung, daß damit die Organisationsdienstleistung auf Dauer gestellt werden kann. Für Hilfsorganisationen kann es nichts Schlimmeres geben, als wenn ihnen die Hilfssituationen und Hilfsbedürftigen ausgehen würden. Also müssen sie notwendigerweise ihre Funktion „hypostasieren“: Sie brauchen eine permanente Zufuhr von sozialen Klienten, die auf ausgleichende Hilfe angewiesen sind.

Um dies zu erwirken, muß die gesellschaftliche Umwelt für die Ausgleichstatbestände des institutionalisierten Helfens „sensibilisiert“ werden, und gleichzeitig soll durch die Sensibilisierung der Bevölkerung deren Spendenbereitschaft, auf die die Organisationen ja auch neben Steuergeldern angewiesen sind, auf ein konstant hohes Niveau gebracht werden. Diese Interessen der Hilfsorganisationen werden in engster Kooperation mit der Politik in gesinnungsmoralischer und humanitaristischer Ideologisierung in der Bevölkerung verbreitet und sogar als „Staatsethos“ unter das Volk gebracht. Um so leidenschaftsloser und serieller die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen ihrer Erwerbsarbeit des Helfens nachgehen, desto mehr muß der Moralismus und damit die Passion des Helfens in der Bevölkerung befeuert werden.

Da das Elend vor der Tür nicht immer präsent ist, ist es für serielles Helfen wichtig, immer mit entsprechenden Bedürftigkeiten konfrontiert zu werden. Erforderlich dazu ist eine „Fernmoral“ (Arnold Gehlen), weil einem dann das Elend der Welt vor den Füßen liegt und damit ein „geborgtes Elend“ (Helmut Schelsky), das immer dann einspringen kann, wenn im Nahbereich die großen Katastrophen ausbleiben. Unabdingbar für die serielle Form des Helfens ist somit ein abstrakter Humanitarismus: Man ist zuständig – ganz global und damit zeitgeistgemäß gedacht – für alle Probleme der Welt. Auf der Bedürftigkeitsschiene ist so die Weltgesellschaft bereits realisiert.

Daß man nicht überall gleichzeitig helfen kann, daß notwendigerweise eine Auswahl erforderlich ist, kommt dabei der universalistischen Ideologie nicht in den Sinn. Auch Kollateralschäden des Helfens finden so gut wie keine Beachtung. Helfen, in welcher Form auch immer, ist immer eine soziale Intervention mit nichtintendierten Nebenwirkungen. Aus der Entwicklungshilfe weiß man, daß fortlaufende Lebensmittellieferungen die Eigenversorgung der Bevölkerung einschränken; die subsistenzwirtschaftliche Lebensform geht verloren.

Überhaupt hat Hilfe die unangenehme Eigenschaft, Abhängigkeiten zu schaffen. Diese Abhängigkeiten machen dann wieder erhöhte Hilfsleistungen erforderlich, so daß die Hilfe durch ihr eigenes Prozessieren ihre Existenzberechtigung reproduziert und sich selbst legitimiert. Die Hilfe zementiert geradezu die Verhältnisse, die Hilfe erforderlich machen. Die Geschichte der Entwicklungshilfe bestätigt, daß das Konzept der Hilfe zur Selbsthilfe (also zur Selbständigkeit) bis auf ganz wenige Fälle gescheitert ist.

Auch fehlt grundsätzlich eine Ökonomie des Helfens. Schließlich gibt es ganz unterschiedliche Formen des Helfens, und unter verschiedenen Bedingungen können mal die und mal jene Hilfsformen effektiv und zielführend sein. Der Soziologe Anton Sterbling hat beispielsweise ermittelt (Landbericht, Sozialwissenschaftliches Journal 2/2016, 16), daß die Ausgaben für einen Flüchtling in der Bundesrepublik in den herkunftsnahen Regionen der Flüchtlinge etwa die zehnfache Wirkung, bei den Ausgaben für unbegleitete Minderjährige sogar die fünfundzwanzigfache Wirkung entfalten könnten.

Doch bei Dominanz einer Gesinnungsethik, eines Moralismus, der nur die vermeintlich gute Tat und nicht das Umfeld im Blick hat, spielen diese Nebeneffekte keine Rolle. Daß man mit seinem Wohlwollen Millionen von Menschen auf gefährliche Wege lockt, daß ganze Staaten bevölkerungsmäßig ausbluten, daß man Schleuserbanden gute Geschäftsgrundlagen schafft, alles das verblaßt vor dem ruhigen Gewissen, etwas Gutes getan zu haben.

Ganz abgesehen von der Tatsache, daß diese Moralhypertrophie (Arnold Gehlen) geltendes Recht (sogar das Grundgesetz: Artikel 16a, Absatz 2) bricht, so als ob es jenseits des Rechts in einem demokratischen Rechtsstaat (!) Moral geben könnte.

Ohne Zweifel soll der Mensch, der etwas hat, einem Menschen, der Not leidet, helfen. Aber diese Hilfe muß verantwortungsethisch fundiert sein, sonst ist sie kontraproduktiv und gefährlich für beide: für Geber und Nehmer!






Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er führt in einer Doppelspitze das Studienzentrum Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Martin Luther und die Geburt des modernen Menschen („Zerrissen und widersprüchlich“, JF 22/17).

Foto: Hilfslieferung (hier in Kenia): Hilfe hat die Eigenschaft, Abhängigkeiten zu schaffen. Diese Abhängigkeiten machen dann wieder erhöhte Hilfslieferungen nötig, so daß die Hilfe ihre Existenzberechtigung reproduziert