© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

Abbau Ost
Görlitz: Nach der Wiedervereinigung blühte die Stadt an der Neiße auf / Nun droht der gesamten Region ein industrieller Kahlschlag
Paul Leonhard

Für das sächsische Grenzland zu Polen begann das neue Jahr so wie das alte aufgehört hatte: mit Hiobsbotschaften. Verkündete der Siemens-Konzern im Dezember seinen Plan, das Dampfturbinenwerk in Görlitz mit rund 960 Beschäftigten zu schließen, so schreckte die Menschen im Januar die Nachricht der Insolvenz des Waggonbaus in Niesky (330 Beschäftigte) auf. Kurz darauf teilte das sächsische Wirtschaftsministerium mit, daß der Bau einer Autofabrik in Rothenburg geplatzt sei. Dort wollte das Unternehmen Beijing WKW Automotive ursprünglich 1,13 Milliarden Euro in die Produktion von Elektrofahrzeugen investieren und 1.000 Arbeitsplätze schaffen. Im Februar sollte der Kaufvertrag über 250 Hektar Land unterschrieben werden.

Dazu kommen die Spekulationen über die Zukunft des Görlitzer Bombardier-Werkes, des traditionellen Herstellers von Doppelstockwagen. Der kanadische Konzern hat bereits wichtige Kompetenzen nach Bautzen verlagert. 

Plötzlich pulsierte wieder das Leben in der Innenstadt

Eine prosperierende Stadt ist Görlitz mit seinen rund 57.000 Einwohnern nur noch aus Sicht seiner deutschen und polnischen Nachbarstädte: Zittau, Löbau, Niesky, Bad Muskau, Bunzlau und Liegnitz, die der Strukturwandel noch härter getroffen hat. Besonders in Zgorzelec, der ehemaligen Görlitzer Oststadt macht man sich Sorgen. Hier hängt alles an den einst sächsischen Braunkohlegruben in Turow und dem dazugehörigen Kraftwerk.

Im kleinen Kosmos der einst reichen und selbstbewußten Bürgerstadt Görlitz und des gleichnamigen Landkreises spiegelt sich aktuell wider, was Globalisierung bedeutet. Wo es einmal Unternehmenskultur gab, herrscht Heuschreckenmentalität. Als sich die Görlitzer 1990 mit der erkämpften Freiheit auch ihrer schlesischen, sächsischen und böhmischen Traditionen entsannen und begannen, die baulichen Schätze der verfallenen und entvölkerten historischen Altstadt wiederzuentdecken, steckte dieser Enthusiasmus westdeutsche Wirtschaftslenker an, die auf der Suche nach Treuhand-Schnäppchen waren.

Heinrich von Pierer beispielsweise führte der Weg Anfang 1990 nach Görlitz, weil Siemens hier dem Konkurrenten ABB zuvorkommen wollte. In seinen Erinnerungen schreibt der ehemalige Siemens-Aufsichtsratschef, wie er den Görlitzer Turbinenbauern die Ansprüche von Siemens „an Qualität, Innovationsgeist und Produktivität“ erläutert habe, aber auch die „Tradition der Siemensfamilie und des Fürsorgeprinzips unseres Unternehmens“. Mit den sehr gut ausgebildeten Ingenieuren und hochmotivierten Facharbeitern sei man – allerdings auf Kosten des Standorts in Wesel – „aus dem Tal der Tränen auf den Gipfel der Leistungskraft marschiert“.

Eine Erfolgsgeschichte, die heute nichts mehr wert ist. Der Aufbau Ost, einst auch ein Anliegen der deutschen Wirtschaft, der in Görlitz dank Siemens ein, so von Pierer, „kleines Happy-End feiern konnte“, weicht inzwischen der Abwicklung Ost, der zweiten Phase der Deindustrialisierung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Beispielhaft läßt sich das am Beispiel der geteilten Stadt an der Neiße beschreiben.

Vor allem Heimwehtouristen waren es, die ab 1990 von Görlitz aus Erkundungstouren in die alte Heimat östlich der Neiße wagten, und die parallel dazu die im Krieg unzerstörte Stadt zurück ins gesamtdeutsche Bewußtsein holten. Vertriebene setzten sich dafür ein, daß in der größten schlesischen Stadt auf dem Gebiet der Bundesrepublik ein Schlesisches Museum als Bundesmuseum installiert wurde. Gottfried Kiesow, Gründer der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, erkannte den städtebaulichen Wert, und begann unbeirrt die Werbetrommel für dieses Aschenputtel an der Neiße zu rühren, unter dessen rußigem Kleid sich für ihn „die schönste Stadt Deutschlands“ verbarg.

Dank der Fördermillionen aus Denkmalschutz und Städtebauprogrammen, aber auch weil Menschen aus ganz Deutschland sich in Görlitz verliebten und sich finanziell engagierten, wurde die Altstadt saniert. Plötzlich pulsierte wieder Leben in der Innenstadt. Das zog kreative Kräfte an. Fast schien es sogar, als ob die sprachliche Barriere zum polnischen Teil zu überwinden sei. Zweisprachige Kindergärten entstanden, polnische Schüler legten in Görlitz das deutsche Abitur ab. Die Universitäten Breslau und Reichenberg gründeten mit der Fachhochschule Zittau/Görlitz eine „Neisse University“, an der künftige Eliten aus Deutschland, Polen und Tschechien gemeinsam studierten.

Die jährliche Verleihung des Brückenpreises an Personen, die sich für das Zusammenwachsen Europas verdient gemacht haben, weckte den Traum von einer europäischen Stadt. Wo sonst waren sich – abgesehen von Oberschlesien – Deutsche und Polen so nah. Man wähnte sich als beispielhaft für das gepriesene Zusammenwachsen Europas, wäre gern das Laboratorium dafür geworden.

In Mähren werden keine deutschen Tariflöhne gezahlt

Görlitz wollte Kulturhauptstadt Europas 2010 werden, bewarb sich mit seinen Hallenhäusern als Welterbestätte – und scheiterte in beiden Fällen knapp. Die kreativen Kräfte zogen weiter. Das deutsch-polnische Zusammenwachsen wurde sich selbst überlassen, mit dem Ergebnis, daß man sich nicht mehr für den anderen interessiert, wie es der Zgorzelecer Vizebürgermeister unlängst beschrieb: „Wir leben aneinander vorbeil.“ Apartheid nannte man das einst, in Görlitz heißt es Europastadt.

Die Wende im öffentlichen Bewußtsein begann wohl an jenem Tag, an dem der wirksamste Werbefaktor für Görlitz wegfiel: als der Oberbürgermeister verkünden mußte, daß es in diesem Jahr keine Altstadtmillion geben wird. Und auch künftig nicht. Das Erbe sei aufgebraucht. Aus und vorbei. Was das Stadtoberhaupt nicht sagte: daß das wohl das Resultat der von Brüssel verordneten Null-Zins-Politik war. Zuvor hatten die Görlitzer jahraus, jahrein im Frühjahr von einem anonymen Spender eine Million D-Mark für die Sanierung der Altstadt überwiesen bekommen. Der regelmäßige Medienrummel kurz vor Beginn der Reisezeit dürfte ebenfalls Millionen Wert gewesen sein, zumal eine Altstadtstiftung das Geld so geschickt verteilte, daß weitere Investitionen in die Bausubstanz angeschoben wurden.

Vollends ernüchterten die Görlitzer aber die mit der Energiewende verbundenen industriellen Umstrukturierungen. Kriselte es bei Bombardier schon seit Jahren, waren plötzlich 960 Arbeitsplätze bei Siemens und weitere 2.000 bei Zulieferern und Dienstleistern in Frage gestellt. Bis dahin galten die Werke der beiden Weltkonzerne „gleichsam als Lebensversicherungen für Hunderte Familien“, wie die Sächsische Zeitung schreibt, deren Reporter einen Wandel in der Managermentalität ausgemacht hat: „Wie Bombardier hatte auch Siemens in der ersten 2000er Dekade Chefs, die mehr waren als Kaufmänner oder Ingenieure. Das waren Leute, die für ein paar Jahre hier zu Hause waren, die man im Theater, beim Joggen oder in der Kneipe traf“, die eine Bindung zu der Stadt aufgebaut hatten. „Was die Managementkultur betrifft, haben sich Siemens und Bombardier schon vor Jahren von Görlitz verabschiedet“, konstatiert die Zeitung.

Zwei, denen das hätte auffallen müssen, sind der frühere Bombardier-Generalmanager Siegfried Deinege, der seit fünfeinhalb Jahren die Geschicke der Stadt als Oberbürgermeister leitet, und der langjährige Görlitzer CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Kretschmer, seit Dezember sächsischer Ministerpräsident. Deinege hatte es noch vor vier Jahren, als Siemens 190 Görlitzer entlassen wollte, als Erfolg gefeiert, daß der Konzern den Standort nicht in Frage stellt.

Besonders auf die Palme bringt die Siemens-Mitarbeiter die Begründung der geplanten Werkschließung. Denn es stimmt schlichtweg nicht, daß die in Görlitz gefertigten Dampfturbinen nicht mehr gefragt seien. Die Auftragsbücher sind voll. Die hier produzierten Industriedampfturbinen werden für Solar- und Biomassekraftwerke, Chemieanlagen und Papierfabriken benötigt und sind gerade durch die Energiewende stark nachgefragt. Allerdings lassen sie sich gewiß, wie Konzernchef Joe Kaeser sagte, „andernorts profitabler“ produzieren. Im mährischen Brünn etwa, einem von Siemens übernommenen Werk, wo keine deutschen Tariflöhne gezahlt werden müssen.

Ein Wegfall von rund 3.000 direkten und indirekten Arbeitsplätzen in Görlitz dürfte Sachsen-Premier Kretschmer vor gravierende Probleme stellen. Schon jetzt ist die Arbeitslosigkeit hier mit knapp zwölf Prozent die höchste in Sachsen. Der Landkreis gilt als das Armenhaus der Republik. Nirgendwo sind die Einkommen geringer. Lediglich aus östlicher Sicht, aus der polnischen Region entlang der Neiße, geht es den Görlitzern gut, was wiederum die hohe Grenzkriminalität erklärt.