© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/18 / 19. Januar 2018

„Das Trauma in den Kinderseelen“
Welches Schicksal Flucht und Vertreibung, damals wie heute, tatsächlich bedeuten können, wird oft vergessen. Der Psychoanalytiker Hans Hopf hat sein eigenes Trauma als Flüchtlingskind aufgeschrieben
Moritz Schwarz

Herr Dr. Hopf, kann man Flüchtlingskinder um 1945 mit Flüchtlingskindern heute vergleichen?

Hans Hopf: Ja, das kann man.

Aber damals kamen Deutsche, heute Ausländer, viele Moslems. 

Hopf: Stimmt, aber es geht in meinem Buch nicht um politische Fragen, sondern um das Leiden von Kindern. Was der Verlust der Heimat, die Flucht, gar ein Trauma für eine Kinderseele bedeuten, ist weitgehend unabhängig davon, woher das Kind kommt und wohin es gelangt.

Sie waren selbst ein Flüchtlingskind.

Hopf: Ja, und ich finde gut, daß es heute so viel Empathie für Flüchtlinge gibt. Allerdings hat man über mögliche Risiken und Gefahren zu spät nachgedacht.

Zum Beispiel?

Hopf: Traumata machen Menschen nicht nur krank, sie können auch ihre Fähigkeit, Affekte zu regulieren – Ängste, Aggressionen und Sexualität – einschränken. Das kann gelegentlich zu Übergriffen oder gar Gesetzesverletzungen führen. Opfer können zu Tätern werden, das ist sogar relativ typisch bei Trauma­erfahrungen – nicht zwangsläufig, aber durchaus nicht selten. 

Und dies wurde von der Politik und der „Refugees Welcome“-Bewegung ignoriert? 

Hopf: Zumindest nicht ganz real eingeschätzt. Wobei ich keine neue irrationale Fremdenfeindlichkeit entfachen will. Daß es Probleme geben kann, sollte nicht dazu verwendet werden, Fremde pauschal abzulehnen. Aber es gibt unter den Flüchtlingen auch ein mögliches Potential für dieses Risiko, was zunächst ausgeblendet wurde. Hier sind Prophylaxe und Therapien erforderlich, aber auch ein Achten auf Regeln und Gesetze. Je vielfältiger eine Gesellschaft ist, desto klarer müssen die Regeln sein. 

In Ihrem Buch warnen Sie davor, irrationale nicht mit natürlicher Fremdenangst gleichzusetzen. 

Hopf: Ja, Angst ist natürlich, sie ist uns angeboren – auch die Angst vor dem Fremden und Unbekannten. Mit acht Monaten beginnen Kinder zu fremdeln – sie erfahren, daß sie dem Fremden nicht immer vertrauen können. Sie klammern sich an ihre Mutter und prüfen erst einmal, ob der Fremde für sie zuträglich ist. Für uns heißt das, Angst darf nicht irrational werden, sondern soll sich verringern, wenn kein Anlaß für sie besteht. Wo aber Anlaß besteht, muß sie auch ernst genommen werden. Deshalb meine ich, daß Sorgen und Ängste aller Menschen – der Flüchtlinge wie aller Deutschen – relevant sind. Und daß eine Beschimpfung jener, die Ängste äußern, sie pauschal als Fremdenfeinde, Nazis oder Rassisten zu bezeichnen, ebenso zu vermeiden ist wie eine Beschimpfung von Ausländern und Flüchtlingen. Aber da sind wir im Politischen. Die Meinung der deutschen Bevölkerung  ist hinsichtlich der Flüchtlinge gespalten, das ist problematisch, weil nicht mehr auf den anderen eingegangen wird. Als Psychotherapeut möchte ich die Ängste von beiden Gruppen verstehen, damit ein Dialog wieder möglich wird.

Sie sprechen von „Flüchtlingen“, viele sind aber keine Flüchtlinge im Sinne unseres Asylrechts, sondern illegale Einwanderer. 

Hopf: Da haben Sie recht, Flüchtlinge sind für mich Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen und ihre Heimat verloren haben. Alle anderen sollte man nicht so bezeichnen. Allerdings ist es für Kinder unerheblich, aus welchem Grund ihre Eltern kommen. Sie verstehen die politischen Implikationen nicht, sie erleben nur die Entwurzelung, die nicht selten gefährlichen Fährnisse der Reise und die Fremdheit, Verwirrung und Unsicherheit hier in einem Land, das sie nicht verstehen. Ich habe als Kind selbst erlebt, was Armut, Ablehnung und Diskriminierung für ein Kind bedeuten. Denn ich bin wirklich ein Opfer der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Nicht nur, weil wir die Heimat verloren haben, sondern weil sich dadurch bei mir viele psychische Probleme und traumatische Symptome gebildet haben, die ich erst viel später erkennen und langwierig durch Therapien bewältigen konnte. Ich bin als heimatvertriebenes Kind später aber auch vielen hilfreichen Menschen begegnet.  

Wer Ihr Buch liest, realisiert, daß wir uns heute gar nicht mehr klarmachen, welches Leid die Vertreibung für die Menschen damals tatsächlich bedeutet hat. 

Hopf: Das stimmt. Es gab einmal das Gesamtschicksal der Volksgruppen, der Pommern, Schlesier oder Sudetendeutschen, zum anderen die Einzelschicksale. Die Volksgruppen wurden im Lauf der Zeit gut integriert, aber nach dem, was die Vertreibung in den Menschen angerichtet hatte, wurde kaum gefragt. Man glaubte, mit einer Wohnung, Lohn und Brot das Thema erledigt zu haben. 

Die Wahrheit aber ist? 

Hopf: Daß viele ihr Leben lang an der Vertreibung beziehungsweise an dem, was diese in ihnen angerichtet hat, gelitten haben oder noch leiden. Übrigens sehr oft, ohne es zu wissen. Etliche erfahren erst durch eine Therapie, daß Leiden und Probleme, die sie ihr ganzes Leben gequält haben, daher rühren. 

Bei KZ-Opfern bemühen wir uns, ihr Leiden nachfühlbar zu machen. Gleiche Empathie für Vertreibungsopfer gibt es nicht. 

Hopf: Unser Schicksal wurde als Folge der Schuld betrachtet, die wir wegen des verlorenen Krieges und des Dritten Reiches zu tragen haben. 

Ist das nicht unbarmherzig? 

Hopf: Sicher, ich habe mich später immer gefragt, warum ich als Kind dafür bezahlen mußte. Auch deshalb wollte ich mein Schicksal in diesem Buch einmal stellvertretend aufzeigen. 

Also leiden die Deutschen heute noch unter einem Schuldtrauma, das sie für das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 desinteressiert macht? 

Hopf: Möglich – Tatsache ist, daß Traumata vielerlei Wirkung haben können: den Traumatisierten auch unempfindlich gegenüber dem Leid anderer Menschen machen. Bis heute leugnen manche gar, daß die Vertreibung überhaupt Traumata bewirkt hat. Dagegen sprechen die Zahlen, die belegen, daß Traumaprobleme bei Deutschen in meiner Altersstufe häufiger sind als im Durchschnitt – was auf die Kriegserlebnisse zurückgeführt wird. Ja, gerade bei Älteren kehren verdrängte Traumafolgen wieder. Während man im Ersten Weltkrieg immerhin versuchte, sogenannte Kriegszitterer zu behandeln, gab es nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch gar keine psychiatrische Behandlung. In Kindheit und Jugend der Opfer wurde nicht darüber gesprochen, da ging es um Aufbau und den Blick nach vorn. Dann wurde durch Beruf, Karriere und Familiengründung alles zugedeckt. Überdies galt es lange als peinlich, wenn nicht als Schande, psychisch krank zu sein. Wenn Menschen aber älter werden und das Alltagsgerüst verlieren, die Kinder aus dem Haus und sie in Rente sind, kommt das Verdrängte leicht wieder. Viele davon erkranken dann an Depression, der Hauptfolge von Traumata. 

Wie groß ist die Zahl dieser Depressionen? 

Hopf: Das läßt sich schwer sagen, im Gesamtbevölkerungsdurchschnitt sind es circa 1,4 Prozent, bei der Erlebnisgeneration dagegen sind es etwa 3,8 Prozent. Es ist also keineswegs so, daß die ganze Erlebnisgeneration traumatisiert wäre, aber der Unterschied ist signifikant. Zudem gibt es eine Dunkelziffer.

Wie ist das bei den Flüchtlingen heute? 

Hopf: Auch das ist schwer sagen. In der Presse liest man von zwanzig bis dreißig Prozent. Meiner Meinung nach wird aber nicht beachtet, daß bei weitem nicht jedes psychische Problem eine Traumafolge ist.

Folgt man den Pro-Flüchtlingsorganisationen, hat man schnell den Eindruck, im Zweifel haben alle ein Trauma.

Hopf: Nein, und es stört mich, daß man generell von traumatisierten Menschen spricht.

Viele Bürger sind deshalb skeptisch, wenn sie von traumatisierten Flüchtlingen hören.  

Hopf: Eben, deshalb sollte man mit solchen Aussagen seriös umgehen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie eindrucksvoll Ihren Alltag als Kind in einem Flüchtlingslager in Franken – das fast wie ein Lager lebender Toter wirkt.

Hopf: Ich habe sechs Jahre dort gelebt, und es gab auch glückliche Momente. Ein Leser, der als Kind ebenfalls dort war, schrieb mir sogar empört, warum ich „unser Lager“ schlechtmache. Als Kind hat man eben die Fähigkeit, die Dinge so hinzunehmen wie sie sind, selbst wenn man in einem Lager oder einer Trümmerwüste lebt. Tatsächlich aber habe ich damals bei vielen Kindern und Jugendlichen in meiner Umgebung – wie ich heute weiß – psychische Störungen beobachtet. 

Als „lebende Tote“ erscheinen einem im Buch auch mehr die Erwachsenen. 

Hopf: Ja, viele von ihnen waren traumatisiert. Etwa Kriegsheimkehrer, die wie gelähmt erschienen, nicht in der Lage waren, geregelt zu leben und eine Arbeit aufzunehmen. Sie saßen herum und warteten. Ständig rauchend und trinkend. Wegen ihrer Apathie wurden sie obendrein von ihren Frauen, die selbst von Sorgen und Nöten bedrückt waren, beschimpft. Natürlich kam es in dieser Situation immer wieder zu Spannungen und sogar Gewalt. Manche der Traumatisierten hatten aufgegeben und ließen alles hilflos über sich ergehen, andere übten mitleidlos Gewalt aus, weil sie abgestumpft und nicht mehr in der Lage waren, Konflikte anders zu regeln. Mein eigener Vater war von der Apathie und auch von der Gewalt betroffen. Es war als Kind schlimm zu sehen, wie er sich schlagen ließ, ohne sich zu verteidigen. Als Kind wünscht man sich so sehr einen Vater, der sich zu wehren weiß. Ich verstand damals noch nicht, daß er sich gegen den ihm körperlich weit Überlegenen gar nicht zur Wehr setzen konnte.     

Sie beschreiben außerdem eine erstaunliche Feindseligkeit der Einheimischen gegenüber ihren vertriebenen Landsleuten. 

Hopf: So war die Stimmung damals. Wir Kinder aus dem Lager mußten etwa schon deshalb zusammenhalten, weil die Kinder aus dem Dorf uns regelrecht verachteten. Für sie waren wir die Lagerstinker. Dieses Gefühl von damals, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, ein „dreckiger Flüchtling“, hat mich lange begleitet. Noch bei meiner Hochzeit – und da war ich immerhin schon 26 – hat der Pfarrer meine Braut zuvor mitleidig gefragt, ob sie denn nichts Besseres habe finden können als einen Flüchtling. Die Ablehnung gegenüber den Flüchtlingen war damals die gleiche wie heute.

Wenn das stimmt und Migranten heute die gleiche Art Ablehnung trifft wie die Ostdeutschen damals, wie kann diese dann ein Zeichen für Rassismus sein?   

Hopf: Eben, das Wort sollte man nur gezielt verwenden, wenn es auch stimmt. Generell ist dieser Vorwurf in erster Linie eine Keule. Überdies ist er meist falsch, weil Rassismus eine Ideologie bezeichnet, die Menschen wegen ihrer Rasse ablehnt, was zumeist, wenn er erhoben wird, nicht der Fall ist. Korrekt müssen wir von Fremdenangst sprechen.

Warum wird er dann ständig gemacht?

Hopf: Weil nichts dem Ego wohler tut als das Gefühl moralischer Überlegenheit. Deshalb wird so gerne die Moralkeule geschwungen. Flüchtlinge sind dann alle Asylbetrüger und Einwanderungskritiker alle Fremdenfeinde – egal, wer diskriminiert wird, schon steht man selbst besser da. Daneben gibt es aber Gott sei Dank auch andere Argumente.

So betrachtet waren möglicherweise nicht einmal die aggressiven Proteste gegen Asylbewerber in Clausnitz oder Heidenau tatsächlich „rassistisch“.

Hopf: Ich habe zu meiner Zeit erlebt, wie US-Soldaten Einquartierungen gegenüber unseren Landsleuten mit Gewalt durchsetzen mußten, und das war kein Einzelfall. Oder ein Funktionär des Bauernverbandes forderte 1947 sogar, alle Flüchtlinge nach Sibirien zu schicken. Mit Rassismus hat das meist nichts zu tun. Vielmehr mit Ängsten, die sich in Aggressionen verwandeln können. 

Im sächsischen Clausnitz blockierten 2016 Bürger einen Bus mit Asylbewerbern. Im Buch schildern Sie, wie bedrohlich ein Kind im Bus die Demonstration wahrnimmt.  

Hopf: Das Kind versteht gar nicht, was vor sich geht. Es ist Nacht, es ist müde, durstig und hungrig, es versteht die Sprache nicht, es erlebt nur den Haß und die Ablehnung. Es glaubt wiederzuerleben, was es in seiner Heimat erfahren mußte.

Protest gegen Regierungspolitik ist in einer Demokratie selbstverständlich, natürlich auch wenn es um Asylpolitik geht. Dennoch mahnen Sie mehr Rücksicht an?

Hopf: Es geht hier um Menschen, um Kinder. In meinem Buch schildere ich etwa das Schicksal der zehnjährigen Amal, die mit ansehen mußte, wie sich ihre Schwester mit Petroleum übergoß und selbst verbrannte, um der Zwangsehe zu entgehen. Wie deren schwarzverbrannter Leib noch einige Tage lebte, wie die Wunden so zu stinken begannen, daß die Familie der Halbtoten ein Zelt im Garten errichten mußte, und wie sich vor dem Tod der Körper der Schwester aufblähte. Die mit ansehen mußte, wie auf ihrer Flucht Menschen von einem Laster fielen und überfahren wurden, wie Muslime im Tschad alle Christen unter den Flüchtlingen totschlugen. Die in Äthiopien verhaftet und gezwungen wurde, den ganzen Tag in der Sonne zu stehen, und als sie abends um Wasser bettelte, von den Soldaten vergewaltigt, schwer verletzt, schließlich in einen Sack gebunden und mit dem Müll in einen Kanal gekippt wurde. Zwei Wochen war sie bewußtlos und überlebte wie durch ein Wunder. Heute ist Amal in Deutschland und träumt nachts davon, wie ihre Schwester ihr eigenes Grab aushebt. Nur eine spätere Therapie kann ihre zerstörte Seele retten.         

Clausnitz sorgte für bundesweite Empörung. Nichts davon aber, wenn aggressiv und haßerfüllt gegen Vertriebene demonstriert wird, von denen viele ebenfalls Grauenhaftes erlebt haben.   

Hopf: Wahrscheinlich ist es so. Vielleicht fühlen wir uns immer zuwenig in andere Menschen und ihre Meinungen und Ängste ein. Ich bin erst unlängst in die Sudetendeutsche Landsmannschaft eingetreten, auch um ein Signal zu setzen: Ich bin ein Teil von euch. Aber auch, um die Versöhnung mit Tschechien fortzusetzen. Gerade weil ich Vertriebener bin, kann ich die echten Flüchtlinge heute besonders gut verstehen, und ich sehe diese erhöhte Empathie auch bei anderen deutschen Heimatvertriebenen, wenn auch leider nicht bei allen. Keineswegs will ich die Verhältnisse damals naiv auf die heutigen übertragen, aber wir verstehen, was es bedeutet, in eine neue „kalte Heimat“ zu kommen und mit Ablehnung zu kämpfen. Und welche Verheerung das Schicksal in den Seelen mancher dieser Menschen angerichtet hat. Der Schweizer Psychoanalytiker Mario Erdheim hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Traumatisierte Menschen sind aus der Welt gefallen ... und wir müssen alles tun, sie wieder in die Welt zurückzuholen.“ 






Dr. Hans Hopf, der renommierte Kinder- und Jugendpsychotherapeut wurde 1942 in Teplitz-Schönau (heute Teplice) bei Aussig in Nordwestböhmen geboren. Nach Kriegsende wurde die Familie vertrieben, Hopf wuchs in Bamberg und Schorndorf auf und lebt heute nahe Stuttgart. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und war immer wieder in Presse, Rundfunk und Fernsehen zu Gast. 2017 erschien sein jüngstes Buch „Flüchtlingskinder gestern und heute“ im Verlag Klett-Cotta.

Foto: Publizist Hopf: „Die Volksgruppen, wie Pommern, Schlesier, Sudetendeutsche, wurden gut integriert. Was die Vertreibung aber in den Menschen angerichtet hat, danach wurde kaum gefragt“ 

 

weitere Interview-Partner der JF