© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/18 / 12. Januar 2018

Der „Große Sprung“ ins rote Elend
Vor sechzig Jahren wollte Mao den Westen überholen und die Chinesen in den Kommunismus zwingen
Peter Kuntze

Fjodor Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ war in der Sowjetunion verboten – verständlicherweise: Bereits 1872 hatte der neben Puschkin und Tolstoi bedeutendste russische Autor die Bestialitäten eines totalitären Sozialismus vorausgesehen. In seinem opulenten Werk läßt Dostojewski die Mitglieder einer antizaristischen Verschwörergruppe über ihre erträumte Gesellschaft schwadronieren; ihre Phantasien wurden unter Stalin und Mao grauenhafte Wirklichkeit.

„Der Durst nach Bildung“, warnt einer der Fanatiker, „ist schon ein aristokratischer Durst. Kaum sind Familie und Liebe da, so regt sich auch das Verlangen nach Eigentum. Wir werden dieses Verlangen abtöten; wir werden die Trunkenheit, die Klatscherei, das Denunziantentum befördern; wir werden das Genie im Säuglingsalter ersticken. Alles wird unter einen Nenner gebracht, vollständige Gleichheit wird geschaffen werden.“ Ein anderer schlägt die Aufteilung der Menschen vor: „Ein Zehntel erhält die Freiheit der Persönlichkeit und das unbeschränkte Recht über die übrigen neun Zehntel. Diese aber müssen ihre Persönlichkeit verlieren und sich in  eine Art Herde verwandeln.“

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR meinte Politbüro-Mitglied Valentin Falin, im Grunde sei die gesamte sowjetische Geschichte ein Versuch der Führung gewesen, die Grenzen der menschlichen Leidensfähigkeit auszutesten. Mao Tse-tung sah das offensichtlich genauso. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg konstatierte er, Chinas Bevölkerung sei arm, gleichzeitig aber weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Armut dränge zur Änderung, zur Tat, zur Revolution. „Ein weißes Blatt Papier“, so der KP-Chef, „ist durch nichts beschwert, auf ihm lassen sich die neuesten und schönsten Schriftzeichen schreiben, die neuesten und schönsten Bilder malen.“ Sein Menschenexperiment sollte selbst Dostojewskis düsterste Visionen in den Schatten stellen.

In vielen Dörfern starben drei Viertel der Bewohner

Sieben Jahre nach der Gründung der Volksrepublik (1949) hatte die Führung um Mao, Zhou Enlai und Deng Xiaoping die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen für ein stetiges Wachstum gelegt: Die Inflation war gestoppt, die größten Kriegsschäden waren behoben, die Feudalstrukturen in einer opferreichen Landreform zugunsten der armen Bauern beseitigt worden. Mao schien auf dem Höhepunkt der Macht zu sein. Doch im Volk rumorte es. In Fehleinschätzung der Lage ermunterte Mao 1956 alle zu freimütiger Kritik am bisherigen Aufbauwerk – weil er sich seines Rückhalts sicher war, sagen heute die einen, weil er in Wahrheit die Gegner aus der Deckung locken wollte, die anderen.

Die Bewegung „Laßt hundert Blumen blühen, laßt hundert Schulen miteinander wetteifern!“ offenbarte eine Bandbreite des Unmuts und der Unzufriedenheit: Die Bauern wehrten sich gegen die Einführung von Genossenschaften, die Arbeiter kritisierten das Lohnsystem, die Intellektuellen attackierten das Meinungsmonopol der KP – allen gemein war die Opposition gegen die Herrschaft der roten Kader. Anfang 1957 wurde die Kampagne abrupt beendet, viele Kritiker kamen in Arbeitslager oder ins Gefängnis.

Mao jedoch setzte seinen Kurs jetzt noch entschlossener fort. Anfang 1958 kündigte er an, in einem „Großen Sprung nach vorn“ werde China innerhalb von fünfzehn Jahren zuerst Großbritannien und dann die USA in der Stahlproduktion ein- und schließlich überholen. Gleichzeitig werde sich die Volksrepublik in Riesenschritten dem Kommunismus nähern, um den sowjetischen „Revisionisten“ die chinesische Überlegenheit zu demonstrieren. Ausgehend vom Schicksal seiner Familie, recherchierte der Journalist Yang Jisheng zehn Jahre lang über jenes verheerende Projekt. Seine umfassende Studie mit dem Titel „Grabstein“ erschien 2008 in Hongkong; in der Volksrepublik ist sie bis heute verboten.

Im Vorwort schreibt Yang: „Mit diesem Buch errichte ich einen Grabstein für meinen Vater und 36 Millionen Chinesen, die an Hunger starben – für das System, das ihren Tod verursachte, und vielleicht auch für mich selbst.“ Damals, während der „bitteren Jahre“ zwischen 1958 und 1962, wurden selbst Grabsteine von den Friedhöfen als Baumaterial verwendet. Als sein Vater verhungerte, war Yang neunzehn Jahre alt, doch sein Glaube an Mao und an die Partei war noch ungebrochen. Von 1966 bis 2001 arbeitete er als Journalist für die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Mit seinen Nachforschungen begann Yang erst nach der Niederschlagung der Demokratie-bewegung im Jahr 1989.

In vielen Dörfern, so fand er heraus, starben während des „Großen Sprungs“ bis zu drei Viertel der Bewohner. Manche hielten es vor Hunger nicht mehr aus, so daß es in zahlreichen Fällen zu Kannibalismus kam. Andere versuchten, den Tod ihrer Verwandten zu verheimlichen. Sie versteckten die Leichen, um weiter die Lebensmittelrationen zu erhalten. Inzwischen, so erklärte Yang 2012 in einem Interview, gebe die Regierung offiziell zu, daß seinerzeit Menschen verhungerten; ihr zufolge seien es aber „nur“ 20 Millionen gewesen. Viele Historiker sprächen von 50 bis 60 Millionen. „Meiner Einschätzung nach“, so Yang, „ist das zu hoch. Ich denke, es waren etwa 36 Millionen.“

Größte Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte

Die Hungersnot hatte zwei Ursachen: die forcierte Errichtung der Volkskommunen und die Stahlschmelz-Kampagne. Mao dekretierte damals die Gründung von 74.000 „Volkskommunen“, die die 740.000 Produktionsgenossenschaften ersetzen sollten, die je hundert bis zweihundert Familien umfaßten. Mao zufolge waren diese Einheiten zu klein, um den Bau von Staudämmen und Bewässerungskanälen in Angriff zu nehmen und um großflächig zu produzieren. Da die marxistische Utopie im „Absterben des Staates“ gipfelt, sollten die Kommunen in ihrem jeweiligen Gebiet für Landwirtschaft, Industrie, Handel, Verteidigung, Schulen, Kliniken etc. zuständig sein und sich selbst verwalten.

In der Endstufe, so der utopische Plan, würde eines Tages ganz China eine einzige klassen- und staatslose Volkskommune sein, in der es keine Unterschiede mehr zwischen Stadt und Land, Arbeitern und Bauern sowie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit geben würde. Mit der Aufhebung der Arbeitsteilung würde letztlich auch die von Marx beklagte Entfremdung des Menschen von und in seiner Arbeit ebenso ein Ende finden wie die Herrschaft des Menschen über den Menschen.

Die Bauern wurden gezwungen, in Gemeinschaftsküchen zu essen. Herde, Töpfe und sämtliches Geschirr aus Eisen mußten sie abliefern und zu Sammelstellen bringen, wo alles in kleinen Hochöfen eingeschmolzen wurde. Die Schulkinder sollten Nägel und alles Metallhaltige auf der Straße sammeln. Selbst Haarklammern der Frauen wanderten in die Öfen. Doch der Hinterhof-Stahl war völlig minderwertig. Da die Blöcke nicht zu verwenden waren, wurden sie abtransportiert und irgendwo gestapelt. In der Nähe vieler Städte entstanden auf diese Weise regelrechte „Eisenberge“.

Weil in den Dörfern niemand mehr Zeit hatte, die Äcker zu bestellen, wurden die Aussaaten vernachlässigt. Aufgrund der 1958 erzielten Rekordernte beschlossen die Funktionäre vielerorts die Einführung einer kostenlosen Verpflegung – im Glauben, der Hunger, die ewige Geißel des alten China, sei endgültig besiegt. Hinzu kamen Übertreibungen bei der Schätzung der Ernteerträge. Als es zusätzlich zu Unwettern und Mißernten kam, endete der „Große Sprung nach vorn“ mit der größten Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte.

In der Partei formierte sich damals der Widerstand gegen Mao Tse-tung. Er mußte das Amt des Staatspräsidenten abgeben, blieb aber KP-Chef. Da sich gezeigt hatte, daß die Volkskommunen zu groß waren, um sinnvoll verwaltet zu werden, wurden sie verkleinert. Nach Maos Tod (1976) und dem Ende der von ihm initiierten Kulturrevolution veranlaßte Deng Xiaoping die endgültige Abschaffung der Zwangskollektivierung. Gleichzeitig stellte die Partei klar, daß entgegen den radikal gleichmacherischen Vorstellungen der Ultralinken um Mao die Häuser der Bauern und ihr privater Besitz wie Haushaltsgeräte, Möbel und Bankkonten immer ihr persönliches Eigentum bleiben würden.

Möglicherweise zog Xi Jinping 2016 die Lehre aus den ideologisch verursachten Katastrophen. Anläßlich des 95. Geburtstages der KP erklärte der im letzten Oktober für weitere fünf Jahre im Amt bestätigte Parteichef: „Marxismus ist niemals das Ende der Wahrheit. Die Wechsel der Zeiten sowie das Ausmaß und die Tiefe der Entwicklung Chinas sind weit außerhalb der Vorstellung der klassischen marxistischen Denker.“






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda, 2014).