© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/18 / 12. Januar 2018

Wie die Indianer ihr Land verloren
Spätestens mit der Gründung der USA war das Ende einer autonomen Existenz der „First Nations“ besiegelt
Björn Harms

Wenige historische Großereignisse weisen eine so tiefe Kluft zwischen der Kenntnis des Ergebnisses und der Unkenntnis über das Geschehene auf wie die Kolonisierung Nordamerikas durch die Europäer. Eine hinreichend objektive Geschichtsdarstellung blieb lange Jahre auf der Strecke. Bis weit in die 1960er Jahre schrieben die allermeisten Historiker die Geschichte so, als hätte die Urbevölkerung des Kontinents nie existiert. Erst nach und nach setzte sich in den Vereinigten Staaten ein differenzierter Forschungsansatz durch, der sich nicht länger auf ein stures „Gesichtbewahren“ berief und die Rolle der US-Indianerpolitik genauestens untersuchte. 

Die deutsche Geschichtswissenschaft widmete sich dem Thema nur sporadisch. Zwar existieren einige neuere Monographien zu Spezialthemen und Übersetzungen von älteren Übersichtswerken, doch bislang keine den aktuellen Forschungsstand reflektierende Synthese zum indianischen Nord-amerika in der Zeit der Kolonisierung. Mit seiner fundierten Studie „Verlorene Welten: Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910“ unternimmt Aram Mattioli, Professor für die Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Luzern, einen Versuch, diese Lücke zu schließen.

 In seinem differenzierten und solide recherchiertem Buch wirft Mattioli alle gängigen Populärklischees über den Haufen. Dabei beschreibt er zwei Perzeptionswirklichkeiten, wie sie wohl unterschiedlicher nicht sein könnten: Auf der einen Seite die indigenen Völker – gnadenlos zurückgedrängt, vertrieben und schließlich fast gänzlich vernichtet. Auf der anderen Seite die hoffnungsfrohen Siedler, emigriert mit dem Wunsch auf eine bessere Welt und letztendlich verantwortlich für die blutige Landnahme Nordamerikas.

Schon bevor der amerikanische Kontinent in den Fokus der Europäer rückte, existierte ein breites Mosaik aus über 500 indianischen Gemeinschaften mit unterschiedlichsten Kulturen, Wirtschaftsformen und Sprachen. Das Verständnisproblem überwanden die „First Peoples“ mit einer ausgeklügelten Gebärdensprache als „Lingua franca“. Häufig landwirtschaftlich orientiert und teilweise hochentwickelt, konnten diese Gesellschaften somit Handelsbeziehungen über erstaunlich weite Entfernungen unterhalten. 

Dieser Austausch führte auch zu ersten Kontakten mit den europäischen Siedlern, die sich nach Gründungen von St. Augustine (1565), Jamestown (1607) und Québec (1608) allmählich an der Küste Nordamerikas festsetzten. Jedoch brachten die Kolonisten nicht nur materielle Güter in die neue Welt, sondern schleppten auch bis dato unbekannte Krankheiten ein. Bis ins Jahr 1700 schrumpfte die indianische Gesamtbevölkerung dadurch von ursprünglich fünf bis zehn Millionen auf etwa 1,5 Millionen Menschen zusammen.  

Für die so geschwächten Nationen der Urbevölkerung, die nur selten zu einer gemeinsamen Linie gegenüber den Eindringlingen fanden, war der Handel und zeitweise auch die Waffenbrüderschaft mit den französischen, britischen oder holländischen Kolonialisten indes kein rein negativ betrachteter Vorgang. Auch für die blutigen Kämpfe mit anderen indianischen Nationen konnte der Zugang zu europäischen Waren und Waffen eine entscheidende Ressource sein. Zudem ließ die unübersichtliche Konkurrenz der verschiedenen Kolonialmächte den Indianern einen gewissen Spielraum, diese Beziehungen zu ihren Gunsten auszugestalten. 

Ausgerechnet das aufklärerische Gründungsdokument der USA, die Unabhängigkeitserklärung von 1776, wurde den Indianern schließlich zum Verhängnis. Während die französischen Kolonialisten vor allem an einem einträglichen Handel mit Pelzen interessiert waren, auf ihrem Territorium enge interkulturelle Beziehungen bis hin zur ethnischen Vermischung pflegten und die britische Regierung zur Herrschaftssicherung die Besiedlung des Westens begrenzte, zielte die Politik des neuen Bundesstaates darauf, laufend neue landwirtschaftliche Nutzflächen für den Privatbesitz ihrer Bürger zu generieren. Den „First Peoples“ blieb in dieser Konzeption schlichtweg kein Platz. Zusätzlich banden die Vereinigten Staaten die neu erworbenen demokratischen Rechte an die ethnische Herkunft, weshalb Mattioli vom „Janusgesicht der Republik“ spricht.

Die Regierung beschloß 1830 mit dem „Indian Removal Act“ die Zwangsumsiedlung aller östlich des Mississippi lebenden Indianer in Reservate, und der Beginn einer ethnischen Säuberung auf dem Kontinent nahm seinen Lauf. „Wenn der Wilde Widerstand leistet, verlangt die Zivilisation, mit den Zehn Geboten in der einen und dem Schwert in der anderen Hand, seine unmittelbare Auslöschung“, lautete die Devise des US-Generals William T. Sherman, der die Reservatspolitik im Bundesstaat Missouri überwachte. 

Abhängig von staatlicher Alimentierung und mangels natürlicher Ressourcen, wurden die Indianer einem wachsenden Assimilationsdruck ausgesetzt. Aus den „Wilden“ sollten durch staatliche Erziehungsmaßnahmen einfache Farmer und Lohnarbeiter gemacht werden. Bei einer Volkszählung im Jahr 1900 registrierten die Behörden nur mehr 237.000 Indianer. „Die weißen Amerikaner konnten es nie zulassen, daß die indianischen Minderheiten selbstbestimmt ihre eigenen Geschicke in die Hand nahmen“, konstatiert Mattioli. Sein empfehlenswertes Buch „Verlorene Welten“ zeigt also, was wirklich geschah, jenseits der klassischen Wildwest-Mythologisierung. 

Aram Mattioli: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nord-amerikas 1700 – 1910. Klett-Cotta, Stuttgart 2017, gebunden, 464 Seiten, Abbildungen, 26 Euro