© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/18 / 12. Januar 2018

Treffen ganz im Westen
Die Konferenz von Casablanca im Januar 1943 und die Manifestation der „bedingungslosen Kapitulation“
Stefan Scheil

Ob nun „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“ oder „Ich schau dir in die Augen, Kleines“: Zum Stichwort Casablanca kursieren zahlreiche Sprüche und Zitate, kommen berühmte Film-szenen in den Sinn. Der gleichnamige Hollywoodstreifen mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman gehört, das ist nicht zuviel gesagt, zur Kulturgeschichte des Westens. Jedenfalls des Westens, wie er etwa zwischen 1942 und 1990 bestanden hat, als Ergebnis der Frontstellungen und des Ausgangs des Zweiten Weltkriegs.

Nun gab es neben den filmischen Visionen von Casablanca als Ort von Liebesgeschichten und Spannungsgebiet deutscher, französischer und alliierter Interessen sowie als Durchreisegebiet des politischen Exils in Richtung Amerika dort auch Kampfhandlungen und reale Weltpolitik. Im Herbst 1942 landeten US-amerikanische Truppen in Marokko und begannen die Invasion ganz Nordafrikas, um es als späteres Sprungbrett in Richtung Südeuropa zu sichern. Schließlich hielten Anfang 1943 Winston Churchill und Franklin Roosevelt, der britische Premier und der amerikanische Präsident, in Casablanca eine Konferenz ab. Sie geriet zum weiteren Symbol der militärischen Wende des Krieges und des unbedingten Vernichtungswillens der westlichen Alliierten gegenüber Deutschland. 

In Casablanca wurde die Formel von der „bedingungslosen Kapitulation“ öffentlich verkündet. Was zu diesem Zeitpunkt schon seit drei Jahren Praxis war, wurde nun allgemein bekannter Grundsatz. Alle deutschen Friedens- oder Verhandlungsangebote waren seit 1939 ignoriert worden und sollten es auch weiterhin werden. Das ist ziemlich viel Bedeutung für einen abgelegenen Ort in Nordwestafrika. Dennoch hat sich der frühere Spiegel-Redakteur Norbert Pötzl daran versucht, dies alles in einem Band unter einen Hut zu bringen. „Casablanca 1943 – Das geheime Treffen, der Film und die Wende des Krieges“ heißt er und handelt alle drei Aspekte detailreich ab.

Insgesamt ist Pötzls Darstellung, bei allem Verdienst im einzelnen, natürlich sehr stromlinienförmig geraten. Er folgt im großen und ganzen restlos den klassischen Mythen des oben skizzierten Westens, besonders dem von den „Nazis“, die unprovoziert per „Überfall“ einen Krieg vom Zaun gebrochen haben, eine große Gefahr darstellten und nur mit knapper Not von eigentlich unvorbereiteten und ursprünglich zum „Appeasement“ geneigten Westmächten besiegt werden konnten. 

Nun hatte insbesondere bei Churchill in Wahrheit natürlich zu keinem Zeitpunkt ein Zweifel bestanden, wie die Sache ausgehen würde. Selbst im Sommer 1940, während des unerwarteten und spektakulären Zusammenbruchs Frankreichs, hatte er deutsche Gesprächsangebote mit der höhnischen Bemerkung zurückgewiesen, Deutschland könne ja jederzeit ohne Vorbedingungen kapitulieren, wenn es ein Problem habe.

An dieser Stelle transportiert Pötzl nebenbei auch den Mythos, der britische Außenminister Edward Wood Earl of Halifax habe sich 1940 darauf einlassen wollen, Europa zur „Unterjochung“ durch Hitler freizugeben, wenn nur das britische Empire unbeschädigt bliebe. Churchill habe das abgelehnt. Richtig ist, daß im Sommer 1940 über die britische Botschaft in Washington ein deutsches Friedensangebot überreicht worden war, dessen Bedingungen der dortige Botschafter Philip Kerr Lord Lothian als „überaus befriedigend“ bezeichnete und in dem von Unterjochung Europas keine Rede war. Churchill setzte sich damit durch, auch das abzulehnen.

Es bedurfte ebenfalls keiner allzu großen Staatskunst, um den amerikanischen Präsidenten mit in diesen Krieg hineinzuziehen. Franklin Roosevelt hatte zwar noch im Frühjahr 1940 eine öffentliche Stellungnahme Frankreichs und Großbritanniens gefordert, Deutschland nicht vernichten zu wollen. Ob das nun ein echter Versuch zum Kompromißfrieden oder nur eine öffentlichkeitswirksame propagandistische Geste sein sollte, blieb letztlich ungeklärt. Paris und London lehnten es ab, eine solche Erklärung abzugeben. 

Spätestens die französische Niederlage und die dauerhafte Besetzung des größten Teils Frankreichs durch deutsche Truppen ließen in Washington dann die Erkenntnis reifen, wohl selbst militärisch in den europäischen Konflikt eingreifen zu müssen. Bald stand auch fest, wo dies zuerst geschehen würde. Schon im Herbst 1940 ließ der französische General Maxime Weygand einen US-Kontaktmann wissen: „Wenn ihr nach Afrika mit zwei Divisionen kommt, lasse ich schießen; wenn ihr mir mit zwanzig kommt, werde ich euch umarmen.“

In einem denkwürdigen Akt strategischer Blindheit hatten die deutschen Waffenstillstandsbedingungen gegenüber Frankreich das Mittelmeer und Nordafrika völlig von deutscher Präsenz verschont und damit das Einfallstor geschaffen. Zwei Jahre später nutzten es die amerikanischen Invasionstruppen, um sich ohne große Gegenwehr in Afrika festzusetzen. Zwar umarmten die spärlichen französischen Truppen in Marokko den neuen Gegner nicht gerade, doch beließen sie es bei eher symbolischer Gegenwehr. Dies war so absehbar, daß die Produzenten von „Casablanca“ schon vorher den „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ französisch-amerikanischer Art über der Leiche eines deutschen Offiziers in Szene setzen konnten.

In Berlin fühlte man sich betrogen, beklagte die Verletzung des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrags und reagierte erst jetzt damit, das bisher unbesetzte Frankreich wenigstens auch an der Mittelmeerküste mit deutschen Truppen zu versehen. Das bisher im Osten, in Libyen und Ägypten gegen britische Truppen kämpfende Afrikakorps Rommels sah sich nun auch im Westen einem Gegner gegenüber und mußte bald kapitulieren.

Forderung, die eigene Hinrichtung zu billigen

Was die Formel von der „bedingungslosen Kapitulation“ anging, so scheint es der Wunsch des US-Präsidenten gewesen zu sein, sie künftig auch öffentlich zu gebrauchen. Sein Konferenzpartner Churchill interpretierte sie als „freie Verfügung über Land, Leute und sogar Leben“. Genau genommen ist sie daher absurd. Es mag für ein Land oder eine Person die Situation völliger Wehrlosigkeit eintreten. Weder Land noch Person haben aber einen nachvollziehbaren Grund, diesen Status durch einen formalen Akt dann auch noch zu sanktionieren, also gewissermaßen selbst die eigene Hinrichtung zu billigen. Folgerichtig wurde die bedingungslose Kapitulation durch den deutschen Staat auch nie unterzeichnet und mündeten die Nachkriegsregelungen in ein völkerrechtliches Chaos, bei dem über das Deutsche Reich letztlich überhaupt keine Verfügungen getroffen wurden.

Den legendären Filmerfolg von „Casablanca“ beschleunigte das Treffen von Churchill und Roosevelt natürlich enorm. Er war eben schon immer Inszenierung im Spiel – im Westen.

Norbert Pötzl: Casablanca 1943. Das geheime Treffen, der Film und die Wende des Krieges. Siedler Verlag, München 2017, gebunden 256 Seiten, 20 Euro