© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/18 / 12. Januar 2018

Der Täter lauerte seinem Opfer auf
JF exklusiv: Ein Zeuge schildert die letzten Stunden im Leben der fünfzehnjährigen Mia V. aus Kandel
Martina Meckelein

Vielleicht ist es ein Trost für die Eltern der jungen Mia, daß die letzten vier Stunden ihres Lebens glücklich waren. Mia V. war frisch verliebt. Seit dem 9. Dezember ging sie mit Marcel aus der zehnten Klasse. Am 27. Dezember 2017, ihrem Todestag, ist Mia bei ihm zu Hause im Nachbarort Freckenfeld. Irgendwann gehen die beiden zum Bolzplatz, wo sie mit einem seiner Freunde verabredet sind. Von dort gehen die drei wieder zu Marcel nach Hause. Da unterhalten sie sich – über die Schule und über Privates.

Dann bricht das Trio nach Kandel auf, wo Mia wohnt. Die 15jährige besucht dort die Integrierte Gesamtschule. Ein behütetes Leben. Sie ist das einzige Kind der Familie V. Die Busfahrt dauert fünfzehn Minuten.

Er hält das Mädchen wie in einer Schraubzwinge fest

Am selben Mittwoch nach Weihnachten, 34 Kilometer von Kandel entfernt in Neustadt an der Weinstraße, suchen um 11 Uhr zwei Polizeibeamte der Inspektion Neustadt Abdul D. in dessen dortiger Wohngruppe auf. Der Grund: Mia, seine Ex-Freundin, und ihr Vater, haben gegen den abgelehnten, aber geduldeten Asylbewerber Strafanzeige wegen Bedrohung und Nötigung erstattet. Abdul soll der Schülerin gedroht haben, ihr aufzulauern, sie müsse in Zukunft „aufpassen“. Das Gespräch mit den Beamten soll mehrere Minuten gedauert haben. Die Polizisten händigen dem Afghanen eine Vorladung zur Vernehmung in der Sache aus. Termin: 2. Januar, 11 Uhr, auf der Polizeiinspektion Neustadt. Dann gehen sie wieder. Mia hat jetzt noch vier Stunden zu leben.

Mia steigt mit den beiden Jungs am Bahnhof Kandel aus dem Bus. Ihr Ziel ist der dm-Markt in der Lauterburger Straße. Sechshundert Meter, sieben Minuten zu schlendern. Mia hat zu Weihnachten einen Geschenkgutschein bekommen, den sie einlösen will.

Doch jetzt beim Aussteigen aus dem Bus ahnt Marcel Schlimmes. Denn er sieht dort Abdul stehen, den angeblich fünfzehn Jahre alten Ex-Freund von Mia. „Gehen wir schneller“, soll Marcel gesagt haben. „Warum“, soll sein Freund gefragt haben. „Weil der Typ mich und Mia bedroht hat, der hat mir Schläge angedroht.“ Mia und Marcel beschleunigen ihre Schritte, der Freund fällt zurück.

Abdul verfolgt das Trio, so ein Zeuge gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Und widerspricht damit Darstellungen, der Täter sei seinem Opfer rein zufällig auf der Straße oder beim Einkaufen begegnet.

Die Rheinpfalz denkt in dem Artikel „Reine Spekulation“ vom 9. Januar darüber nach, ob die persönliche Übergabe der Vorladung für den Immigranten aus Afghanistan „eine Drucksituation“ gewesen sei. Sicher ist: Genau um 15.22 Uhr entlädt sich der „Druck“ des Afghanen, indem er die 15jährige Mia öffentlich vor Zeugen in einem Drogeriemarkt mit einem Messer umbringt.

Der Weg der jungen Leute führt an einer Tankstelle, einem Aldi- und einem Netto-Supermarkt vorbei. Endlich erreichen sie den Parkplatz des Drogeriemarktes. Mia und Marcel überqueren ihn schnellen Schrittes, auf Marcels Freund warten die beiden im Eingang des Geschäftes. Endlich in Sicherheit, mögen die drei gedacht haben, als sie gemeinsam dann durch die hell ausgeleuchtete Drogerie schlendern. Mia weiß, was sie sucht – ein Make-up. Sie geht zum Regal inmitten der Drogerie, inspiziert die Ware.

Die beiden Jungs stehen am Ende der Regalreihe, vielleicht zwei Meter von dem Mädchen entfernt. Mia ist intensiv am Suchen. Plötzlich taucht Abdul D. auf. Ganz langsam geht er an den Regalreihen entlang, so als ob er ebenfalls auf der Suche nach einem Produkt sei. Er wird immer langsamer. Dann schert er nach links in den engen Gang zwischen den beiden Regalreihen ein, in dem Mia steht.

Und dann geht es laut Zeugen ganz schnell. Abdul D. beschleunigt. Dabei verzerrt sich sein Gesicht. Es wirkt angestrengt. Jetzt steht er ganz nah bei Mia. Dann gellen Schreie durch die Drogerie. Abdul D. greift laut Zeugenaussagen mit der linken Hand Mias Nacken und zieht ihren widerstrebenden Körper an sich heran. Er hält das Mädchen wie in einer Schraubzwinge fest. In der rechten Faust hat er ein riesiges Messer. Dann holt er weit mit dem rechten Arm aus. Immer wieder soll er die Klinge von unten nach schräg oben in ihren Bauch und die Brust gestoßen haben. Mia schreit, dann stöhnt sie nur noch vor Schmerzen. Sie soll noch versucht haben, mit ihren Unterarmen die Stiche abzuwehren und ihren Bauch zu schützen – vergebens.

Die beiden Jungs stürzen sich auf den Messerstecher. Marcel, Mias Freund, schubst ihn zur Seite. Dabei rutscht dem das Messer aus der Hand, fällt zu Boden. Irgend jemand springt hinzu und kickt das Messer mit einem Fußtritt zur Seite weg, um es aus der Reichweite des Täters zu bringen. Mia bricht zusammen. Eine dm-Mitarbeiterin, sie trägt Handschuhe, kniet bei der Sterbenden. Jemand hat den Rettungswagen gerufen.

Der Täter grinst, schaut ganz ruhig auf die Szene

Abdul wird erst von einem Zeugen am Arm festgehalten. Später steht er ganz ruhig mit dem Rücken an eine Regalwand gelehnt. Seine Arme hat er vor der Brust verschränkt. Er grinst, so Zeugen, und schaut ganz ruhig auf die Szene, wie andere Menschen versuchen, Mias Leben zu retten. Er soll kein Wort gesagt haben. „Nein, es stimmt nicht, ihr Gesicht war nicht zerschnitten, und es war da auch kein Blut auf dem Boden“, so ein Zeuge zur JF. „Nur etwas Blut an der Spitze des Messers. Vielleicht lag das daran, daß Mia eine dicke Winterjacke getragen hatte, die all ihr Blut aufgesogen hat.“

Der Staatsanwaltschaft Landau liegt das vorläufige Obduktionsergebnis der Toten vor. Demnach verletzte einer der Stiche Mias Herz. Das Mädchen starb noch am Tatort. Der Täter habe sich, so die Polizei, widerstandslos festnehmen lassen.

Wer dieser Tage durch das beschauliche Kandel mit seinen hübschen Fachwerkhäusern spaziert, der erlebt eine Kleinstadt unter Schock. Auf den Straßen sind keine Kinder zu sehen. Vor dem gelbgetünchten, sanierten Bahnhofsgebäude lungern tagsüber einige Männer herum. Unschlüssig. „Abends werden Sie kaum noch Menschen auf der Straße sehen“, sagt eine Geschäftsfrau. „Meine Tocher hat Angst. Jetzt gehe ich mit dem Hund raus.“

„Über Kandel liegt ein Fluch. Ab 19 Uhr sind die Straßen leergefegt“, sagt die Wirtin der Bahnhofsgaststätte. „Die Leute haben Angst, ist mein Eindruck. Der letzte Mord in Kandel muß 30 Jahre her sein. Wenn ich mich recht erinnere, war das ein Bundeswehrsoldat. Das Mädchen wurde vergewaltigt und ermordet. Man fand an der Bundesstraße ihre Unterhose.“

„Abends haben wir kaum Gäste“, sagt eine andere Gastwirtin der JF. „Wir könnten mindestens eine Stunde früher als sonst schließen.“

„Die Probleme“, äußert sich eine Kioskverkäuferin zurückhaltend, „die Probleme“ würden „immer größer“, die Bürger aber schwiegen.

Heiko Wildberg, einer von vier rheinland-pfälzischen Bundestagsabgeordneter der AfD, wohnt in Kandel. „Jetzt hat die politische Realität auch uns im Südwesten in der Provinz erreicht“, sagt der promovierte Geologe der JF. „Dabei sind wir gar nicht auf den Umgang mit einer solchen Tat vorbereitet. Es ist unerträglich. Wie viele müssen wir noch opfern?“

Am 11. Januar kommen die Bürger zu einem Trauergottesdienst für die Ermordete in der evangelischen St.-Georgskirche zusammen, dem Wahrzeichen der Stadt. Nach dem städtischen Neujahrsempfang am Sonntag ruft die alteingesessene Bienwald-Karnevalsgesellschaft zu einer Menschenkette auf. An alle Teilnehmer sollen bunte Fähnchen verteilt werden nach dem Motto: „Unser Kandel ist bunt.“





Chronologie des Falls

April 2016

Der spätere Täter Abdul D. reist als unbegleiteter minderjähriger Ausländer nach Deutschland ein. Das Geburtsdatum habe er mit dem 1. Januar 2002 angegeben, seine Herkunft mit Afghanistan. Er stellt einen Asylantrag.

Mai 2016

Abdul D. kommt in die Obhut des Jugendamts Germersheim. Er lebt in einer Jugendhilfeeinrichtung in Wörth am Rhein. Im Nachbarort Kandel besucht er die Integrierte Gesamtschule. Auf dieselbe Schule geht auch Mia V. Später wird D. einer vom Amt betreuten Jugend-WG im 34 Kilometer von Kandel entfernten Neustadt an der Weinstraße zugewiesen, bleibt aber auf der Schule in Kandel.

Februar 2017

Der Asylantrag wird abgelehnt. Wegen Abdul D.s vorgeblicher Minderjährigkeit darf er nicht abgeschoben werden. 

27. November 2017

Abdul D. schlägt während des Unterrichts einem Mitschüler (15) von Mia V. ins Gesicht. Grund: Eifersucht. Der Schüler muß ins Krankenhaus. Seine Mutter erstattet Strafanzeige.

Anfang Dezember 2017

Mia V. trennt sich nach mehrmonatiger Beziehung von Abdul D. In der Folge habe D. nach Polizeiangaben „ehrverletzende Bilder des Mädchens anderen öffentlich zugänglich“ gemacht, dem Mädchen gedroht, ihr am Bahnhof Kandel aufzulauern („abzupassen“) und daß sie zukünftig „aufpassen“ müsse. D. stellt Mia nach, bedrängt, beleidigt und bedroht sie telefonisch und über soziale Netzwerke.

15. Dezember 2017

Mia V. zeigt Abdul D. wegen Beleidigung, Bedrohung und Nötigung an.

17. Dezember 2017

Mias Vater geht ebenfalls zur Polizei.

18. und 19. Dezember 2017

Die Polizei weist nach eigenen Angaben D.s Vormund im Jugendamt telefonisch zweimal auf die Anzeigen und Vorwürfe hin. Beamte suchen Abdul D. am 18. Dezember in der Schule in Kandel auf, nehmen eine Gefährderansprache vor und stellen sein Handy sicher.

27. Dezember 2017

Um 11 Uhr laden Polizisten in Neustadt Abdul D. persönlich vor, da dieser zu einem Vernehmungstermin nicht erschienen war. D. reist nach Kandel, lauert Mia am Bahnhof auf, verfolgt sie und tötet sie um 15.22 Uhr durch mehrere Messerstiche.

Foto: Geschockt, betroffen über das Unerträgliche: Etwa 400 Menschen ziehen am 2. Januar durch das südpfälzische Kandel im Gedenken an die von einem „Flüchtling“ erstochene Schülerin