© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Ein grünes Sumpfmonster und drei irrlichternde Hörner
Inmitten eines Quadrates aus Lichtschachtgittern: Das Mannheimer Nationaltheater scheitert an Beethovens Oper „Fidelio“
Markus Brandstetter

Die Opernhandlung beginnt bereits nach wenigen Takten der Ouvertüre. Man sieht inmitten eines Quadrates aus Lichtschachtgittern das grüne Sumpfmonster, wie es sich mit ekelhaft schleimigen Säften aus drei Blecheimern vollsaut und dabei kräftig greint und stöhnt, um anzuzeigen, daß es ganz furchtbar leidet. Das grüne Sumpfmonster soll Florestan sein, der zu Unrecht Eingekerkerte, was der Zuschauer aber nicht gleich weiß, weil Florestan in Beethovens Oper erst im zweiten Akt auftritt, da er während des ersten ja im Kerker schmachtet.

Nach und nach zeigt sich, daß der Regisseur Roger Vontobel die gesamte Handlung in Florestans Kopf hineingelegt hat. Das, was auf der Bühne zu sehen ist, passiert nicht wirklich, sondern nur in der Vorstellung Florestans, der aus vor ihm herumliegenden Dreckklumpen nach und nach die Figuren der Handlung quasi erschafft. 

Damit so etwas überhaupt funktioniert, hat der Regisseur Florestan in zwei Figuren aufgeteilt: in einen redenden Florestan (Michael Ransburg) und in einen singenden (Will Hartmann), die sich wohl ergänzen sollen, in Wirklichkeit aber nur gegenseitig behindern. Diese Persönlichkeitsspaltung und die Verlegung der Handlung in Florestans Kopf sind ein kapitaler Mißgriff, denn sie nehmen der Inszenierung von Anfang an nicht nur jede Spannung, sondern berauben den Zuschauer des Vermögens, sich in die Figuren hineinzufühlen und während des sich entfaltenden Dramas mitzuleiden. In dem Moment, da der Opernbesucher einmal kapiert hat, daß es Florestan ist, der da von Anfang an auf der Bühne herumliegt und heult und stöhnt wie der sprichwörtliche Schloßhund, steckt die Nadel im Luftballon und die Luft ist draußen.

Ist das einmal geschehen, dann ist es auch mit dem Rest des Dramas und seinen Figuren nicht mehr weit her. Aus des Kerkermeisters Tochter Marzelline, die sich Hoffnungen auf eine Heirat mit dem als Mann verkleideten Fidelio macht, wird in der Mannheimer Inszenierung eine Käthe-Kruse-Puppe, die ungefähr so aussieht, wie man sich die mechanische Olympia in einer Disney-Verfilmung von Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ vorstellt.

Damit sind wir im Stil von Fantasy-Filmen aus Hollywood angekommen, und so geht es in der Aufführung munter weiter. Der Kerkermeister Rocco ist ein großer, buckeliger Troll mit Lemurenkörper und Gorgonenhaupt. Don Fernando, der Gefangenenretter, begeg-net uns als der böse Zauberer Lucius Malfoy aus „Harry Potter“ mit wallendem weißen Haar, düsterem Zauberer-Kostüm und schwarzem Strahlkranz, während Fidelio selber als weiblicher Automechatroniker im roten Hosenanzug auftritt. Von Kerker und Gefängnis ist in der ganzen Oper nichts zu sehen, Claudia Rohners Bühnenbild besteht aus nichts anderem als einem Quadrat aus Lichtschachtgittern, die ab und zu geräuschvoll zugeschmissen werden.

Jetzt könnte allerdings die Musik diese Mannheimer Inszenierung noch herausreißen – allein, sie tut es nicht, was allerdings nicht an Beethoven liegt. Das geht schon mit den Hornisten los, die sonst meist überzeugen, an diesem Abend aber schlecht disponiert sind. Fidelios Arie „Komm, Hoffnung, laß den letzten Stern“ vor dem Finale des ersten Akts ist eine der wenigen Sopran-Arien, in der den Hörnern eine herausragende Rolle zukommt. So schwer sind die drei Hornstimmen nicht, wenn man vergleicht, was Wagner von den Hörnern verlangt, aber der punktierte Rhythmus im Allegro con brio muß präzise, genau auf den Schlag und mit sauberem Ansatz geblasen werden, was trotz Da-capo-Wiederholung nie der Fall war.

Alle verwandeln sich in Engel mit weißen Flügeln

Nicht viel besser sieht es mit den Sängern der ersten Besetzung aus. Annette Seiltgen ist der Rolle des Fidelio weder von ihrer Stimme her noch von der dramatischen Ausdruckskraft gewachsen. Will Hartmann, der als Bariton begonnen hat, später aber ins Tenorfach gewechselt ist, verfügt nicht über die Höhen, die ein Florestan haben muß. Im Duett „O namenlose Freude“ erreicht er das A unter dem hohen C nur mit großen Schwierigkeiten. Sebastian Pilgrim als Rocco verfügt über einen schönen, samtschwarzen Baß, und Amelia Scicolone gibt eine stimmsichere Marzelline mit saubereren Höhen, aber die schrillen Kostüme und das forcierte, vollkommen unnatürliche Agieren, zu dem die Regie sie zwingt, lassen wahre Freude an ihren guten Leistungen kaum jemals aufkommen.

Zum Schluß verwandeln sich alle, sogar der Erzschuft Don Pizarro (Thomas Jesatko), in Engel mit weißen Flügeln, während der eine Florestan an Seilen in den Himmel hinaufgezogen wird und der andere in schwarzer Jeans und Freizeithemd fröhlich weitersingt. Es ist schon klar, daß Regisseur und Kostümbildnerin hier zum Ausdruck bringen wollen, daß jetzt, wie es in Schillers Hymne in Beethovens neunter Symphonie so schön heißt, alle Menschen Brüder werden, aber erstens steht das so nicht in der Oper, und zweitens ist die Broadway-Show mit den Engeln ein allzu primitives Bild, das einen alten Menschheitstraum auf eine Karikatur reduziert. 

Modernes Regietheater in der Oper kann großartig, ja notwendig sein, um von Gipsbüsten den Staub herunterzublasen. Aber dieses große Mannheimer Fantasy-Spektakel zeigt, daß Opernregie, wie alle Kunst, zwingend sein muß. Nur dadurch wird sie groß. Roger Vontobel hat es, als er den Staubwedel aus der Besenkammer holte, vielleicht sehr gut gemeint – aber gut gemeint ist, wie Adorno gesagt hat, „das Gegenteil von Kunst“.

Die nächsten „Fidelio“-Aufführungen in der Oper Mannheim, Goetheplatz, finden am 11. und 29. Januar sowie am 8. und 17. Februar statt. Kartentelefon: 06 21 / 16 80 150

 www.nationaltheater-mannheim.de