© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Liebe wird uns auseinanderreißen!
Teodor Currentzis und seine Music Aeterna machen tödlichen Ernst mit Tschaikowskis „Pathétique“
Jens Knorr

Eine Symphonie zu schreiben, sagt Brahms, sei „seit Haydn kein bloßer Spaß mehr, sondern eine Angelegenheit von Leben und Tod“. Daß Tschaikowskis letzte vollendete Symphonie h-Moll op. 74, die „Pathétique“, eine Angelegenheit auf den Tod ist, hatte man über das Hören der allzu vielen mediokren Aufführungen und Aufnahmen ebenso leicht verdrängen können wie die Widmung an den geliebten Neffen Wladimir Dawydow, „Bob“, ebenso wie über den Titel „Pathétique“, der dem Komponisten von seinem Bruder Modest vorgeschlagen worden war. Pathetisch wird die „Pathetische“ überall dort dargeboten, wo der Zusammenhang von Pathos, Ethos und Logos längst verlorengegangen und Tragödie, gleich, ob in Theater oder Konzertsaal, zur Abladestelle privaten Gefühlsschuttes und zur Ladestation positiver Lebensenergie verkommen ist. Adorno fand für inadäquate Hörer, die ihre eigenen Gefühle auf Musik projizieren und mit der Musik sich selbst verfehlen, das fiese Wort von dem Tschaikowski-Hörer, womit er wohl vornehmlich auf den weiblichen Hörer abzielte.

Will man seinen geschmähten Tschaikowski adäquat hören, muß man ihn adäquat gespielt bekommen. Aber wie ist es um Adäquatheit bestellt bei einer Partitur, die wenig durchgearbeitet scheint, deren Noten nichts weiter herzugeben scheinen, als was in den Noten steht: vermeintlich billige Effekte, unreine Gefühlsballungen und -entladungen, windbeutelhafte Theatralik, parfümierte Russen-Folklore?

In der Partitur zeigt der Dämon seine Gestalt

Teodor Currentzis und seine Music Aeterna gehen in ihrer Aufnahme der „Pathétique“, die übrigens im Berliner Funkhaus in der Nalepastraße entstand, der Wahrheit der „Pathétique“ auf den Grund, bringen Pathos, Ethos und Logos neu zusammen und heraus, wovon diese Musik eigentlich redet. Redet? Schreit, flüstert, stammelt, schwätzt und nicht mehr schweigen will – und wem sie sich letzten Endes ergibt.

In einem beigegebenen Essay, an Tschaikowski gerichtet, „anstelle eines Briefes“, gibt sich Currentzis nicht mit dem Benennen der Kontrapunkte Eros und Thanatos zufrieden, welche die Symphonie unter Spannung halten. Er liest ihr geheimes Programm aus der Partitur, denn nur dort, in den Noten, zeigt der Dämon, der Werk und Schöpfer antreibt, seine wirkliche Gestalt. Freilich nennt Currentzis ihn nicht bei Namen, da scheint der Grieche sehr Russe.

Wer von Tschaikowskis Homosexualität nicht reden will, sollte auch von seinem Komponieren schweigen. Seine gesellschaftliche Position halten und dabei künstlerisch aufrichtig bleiben, das war dem angepaßten Homosexuellen nur mit Mühe möglich. Tschaikowskis unbedingten Willen zum Doppelleben spiegelt der Doppelcharakter seiner Kompositionen wider. Sofern sie außermusikalische sind, waren die Zeichen immer schon leicht zu dechiffrieren: weißer Schwan und schwarzer Schwan, Kartenspiel und „das Gefühl“, die Geschenke des Patenonkels Droßelmeier an die Patennichte und der häßliche Nußknacker, der sich doch noch in einen Prinzen verwandelt, die blinde Jolanthe, dem Falschen versprochen, und die sehende Jolanthe, dem Richtigen an die Hand gegeben, Tatjana für den Alten und Lisa in die Newa. Namentlich seine intimen Opern nach Puschkin, aus denen er jegliche romantische Ironie ausmerzte, „Jewgeni Onegin“ und „Pikowaja dama“, sind als Apotheosen des Verzichts und tödlicher Süchte zu lesen.

Currentzis hält die Wunde offen

Weil aber mehr noch als die außermusikalischen die musikalischen Zeichen selbst Bedeutung haben, insbesondere da, wo sie nichts als reine Musik bedeuten wollen, müssen sie sich deuten lassen und gedeutet werden. Die Wunde, die dem Komponisten aus nicht auslebbarem Lieben in der Seite brannte, sie ist den musikalischen Strukturelementen der „Pathétique“ eingebrannt. Wo andere Dirigenten nur vermeintliche Mängel und Schwächen des Komponisten gesehen haben, die sie im Interesse eines wie auch immer homogenen Ganzen abzuschleifen suchten, da erkennt Currentzis Absichten und hält die Wunde offen.

Der klassischen Sonatenhauptsatzform bediene sich Tschaikowski als – Currentzis an Tschaikowski – „einer Sprache (…), die alle verstehen, um das auszusprechen, was sie nicht begreifen“, als „der Sprache deiner Mörder, der Sprache derjenigen, die dir das Sprechen beigebracht haben.“ Sie nimmt den Hörer mit, um sich von ihm zu lösen, sich in Auflösung gegen ihn zu wenden und ihn auf sich selbst zu verweisen. Die Music Aeterna unter Currentzis vollzieht ihre Grammatik grausam nach. Über keine der Vortragsbezeichnungen, deren Befolgung aus Noten erst Musik werden läßt, gehen die Musiker achtlos hinweg. Sequenzierungen und Repetitionen buchstabieren sie unerträglich durch. Glück- und verheißungslos artikulieren die Bratschen das Hauptthema, angelehnt an das Thema Germans aus „Pikowaja dama“. Die Seitenthemen, „Liebkosungen einer schönen Erinnerung“, verwandeln die Musiker in der Tat in „Messerstiche“. Schienen Klarinette und Fagott in sechsfachem (!) Piano eben noch einen Ausweg ins Innere zu weisen, zerfetzt ein Fortissimo-Schlag des vollen Orchesters alle Rückzugshülle – wie ein Schlag ins Gesicht, welches das Spiegelbild dem sich Spiegelnden versetzt. In die Gedankenhölle der Durchführung drängt sich die liturgische Melodie aus dem Totenoffizium der orthodoxen Kirche: „Mit den Heiligen laß ruhen, Christus die Seelen Deiner Diener.“ Wieder das liebliche Thema des Seitensatzes, nun aber ohne jedes Leben, ohne jede Gegenwart; „als würden sie nach ihrem Tod aus dem Jenseits zurückblicken auf die Zeit ihrer ersten Liebe“, hat Currentzis seine Musiker zu spielen gebeten, die Schlußgruppe in überirdischer Helle.

Damit ist das Terrain für die beiden Binnensätze bereitet, die als Beschwörung von Vergangenem escheinen, beschworen von einem eingeschlossenen Ausgeschlossenen. Für den „Teufelswalzer“ des zweiten Satzes im 5/4-Takt, untanzbar für den Tänzer, der doch immer mittanzt, ein konservativer, zarentreuer Mann, weltberühmt und gleichgeschaltet, den Skandal fürchtend und den Skandal provozierend. Von peinlichen Auftritten während seiner Europareise berichten Zeitgenossen unter der Hand, von der Ausschau nach jungen Männern die Tagebücher. Und für das Scherzo, Tarantella und Marsch, eine „Parade höllischer Mächte“, als die schon der Musikwissenschaftler Boris Assafjew diesen dritten Satz gehört hat, in dem fröhliche Gesichter zu verzerrten Grimassen gelieren, Muskelspiel zum Krampf erstarrt, Ungestüm in Hetze umschlägt und ein und derselbe die Tritte empfängt, die er austeilt.

Der Schlußsatz, das Adagio lamentoso, der mit dem Eingangssatz mehr als nur die Grundtonart h-Moll teilt, führt den Würgegriff zu Ende. Wie in Worte fassen, was uns hier zu hören auferlegt wird: Dissoziation der musikalischen Form, Röcheln des gestopften Blechs, fallende Sekundschritte der Posaunen vor der Coda, unterlegt mit dem unheimlichen Schlag des Tamtams, angelehnt an die Musik bei Germans Tod, zweifache und zwiespältige Leidenschaft symbolisierend, die grauenhaften Sforzandi der Streicher, die fünf Pizzicati der Streicher, mit denen diese vollendet Unvollendete ausläuft?

All dies machen die 110 Musiker der Music Aeterna mit erschreckender Klarheit durchhörbar. Mit der Stimme ihres je eigenen Instruments, ihrer eigenen Stimme, lassen sie die Wunden des Komponisten aufblühen, von denen nicht ausgemacht ist, daß es die Wunden nur des Komponisten sind. Sie singen die Gesänge Maldorors russisch.

Zwei Tage nach der Uraufführung, am 30. September 1893, schreibt Tschaikowski an seinen Verleger Jürgenson, daß er auf die Symphonie stolzer sei, als auf irgendein anderes seiner Werke. Drei Tage später trinkt er, mitten in der Choleraepidemie, ein Glas nichtabgekochten Wassers. Ob er sich durch den Trank mit dem tödlichen Bazillus infizierte oder zu diesem Zeitpunkt bereits infiziert war, ist in der Forschung umstritten. Am 6. November stirbt Tschaikowski. Tschaikowskis Ehefrau, Antonina Miljukowa, überlebt Tschaikowski um 24 Jahre, davon die letzten 20 in einer Irrenanstalt. Bob Dawidow erschießt sich 1906, 35 Jahre alt.

Diese Referenzaufnahme macht die „Pathétique“ nicht erträglicher, als die Noten hergeben. Weil Leid nicht transzendiert wird, sondern immanent gestaltet, ist sie adäquat. Dem Hörer verlangt sie ab, sich mit bedachter Taubheit der ungedeckten künstlerischen Erfahrung zu überlassen, wie sich ihr vor ihm Teodor Currentzis und die Seinen ausgesetzt haben – todesmutig.

Pjotr I. Tschaikowski: Symphonie Nr. 6 „Pathétique“ Sony Classical 2017  www.sonyclassical.de