© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Nicht nur auf den Tourismus setzen
Ägypten: Präsident Abd al-Fatah as-Sisi sucht sein Heil in Großprojekten / Nubier fürchten Verdrängung
Marc Zoellner

Es war ein ungewöhnlicher Protestzug, selbst für ägyptische Verhältnisse, der Anfang September in Assuan Einzug hielt: Vierundzwanzig Männer, allesamt in die traditionell bunten Gewänder des nubischen Stammes gehüllt, blockierten eine der Hauptverkehrsstraßen der Kapitole des gleichnamigen ägyptischen Gouvernements und begannen unter den Augen zahlloser Beifall klatschender Zuschauer plötzlich zu trommeln, zu tanzen und Volkslieder zu singen. 

Das Spektakel dauerte nur wenige Minuten, bis eine Bereitschaftsstaffel der ägyptischen Polizei eintraf. Mit Schlagstöcken ausgerüstet, lösten die Ordnungskräfte die Versammlung brutal auf. Die vierundzwanzig Tänzer wurden verhaftet. Wer keine medizinische Versorgung aufgrund seiner Verletzungen verlangte, wurde in ein Lager in der Wüste kurz außerhalb Assuans verschleppt, um intensiv verhört zu werden.

Friedliche Proteste werden rigoros unterbunden

Knapp zwei Monate später verstarb der erste von ihnen: Seine Wächter fanden Gamal Sorour in dessen Zelle; im diabetischen Koma auf dem blanken Boden liegend und ohne Aussicht auf fachärztliche Wiederbelebung. Der plötzliche Tod Sorours sowie die gewaltsame Zerschlagung der Zusammenkunft seiner Mitstreiter beherrschten lange die öffentliche Diskussion im südlichen Ägypten: Eine Debatte um die repressive Staatsgewalt unter dem autoritär regierenden Präsidenten Abd al-Fatah as-Sisi, um die verbleibenden Möglichkeiten der Ausrichtung friedlicher Proteste nach dem gescheiterten Arabischen Frühling einerseits. Sowie jene um die fortwährende Marginalisierung der ältesten ethnischen Minderheit Ägyptens – des Volkes der Nubier, welches in der 25. Dynastie über ein Jahrhundert lang den ägyptischen Pharao stellte, von der Moderne jedoch beinahe komplett vergessen wurde, auf der anderen Seite. Ein Volk, das sich in Ägypten wie auch im Sudan entwurzelt in alle Winde zerstreut, dessen angestammtes Siedlungsgebiet seit fünfzig Jahren bereits unter den schlammigen Fluten des Nil begraben liegt.

Monumental wirken die Umbrüche, die Ägypten derzeit erlebt, auch und gerade aus volkswirtschaftlicher Perspektive betrachtet. Seit 1986 hat sich die ägyptische Bevölkerung von 46 Millionen auf 95 Millionen Einwohner nahezu verdoppelt. Hinzu kommen noch einmal gut zehn Millionen Ägypter, die außerhalb ihres Landes wohnen. Um seine Bürger noch hinreichend zu versorgen, sah sich der Staat schon 2010 gezwungen, etwa 40 Prozent seiner Nahrung aus dem Ausland zu importieren. Sechs Jahre später lag die Importrate bei 60 Prozent – mit weiterhin steigender Tendenz. Denn obwohl Ägypten mit gut einer Million Quadratkilometer Fläche fast das Dreifache Deutschlands ausmacht, sind nur etwa sechs Prozent des Landes überhaupt besiedelbar. Der große Rest sind Wüsten und steinige Gebirge.

Ebenso monumental scheinen von daher die Anstrengungen, welche die ägyptische Regierung seit drei Jahren unternimmt, um diese bedenklichen Trends wenn nicht schon aufzuhalten, dann doch zumindest abzumildern. Spätestens der Arabische Frühling brachte den Ägyptern in dieser Hinsicht eine folgenschwere Lektion bei: Auf den Tourismus allein, vor zehn Jahren noch die Hauptdevisenquelle der  Volkswirtschaft, kann der Nilstaat sich nicht mehr stützen. Denn der komplette Zusammenbruch des Tourismussektors infolge der Ereignisse von 2011 brachte nicht nur die Revolution in Ägypten zu Fall – er trieb auch Millionen von Ägyptern, die im Fremdenverkehr ihr Gewerbe fanden, an den Rand des Ruins und wirkt seitdem als düstere Mahnung nach.

„Wir haben über 450 Schiffe für Touristen auf dem Nil“, erinnert sich Walid, ein Reiseveranstalter aus Assuan, im Gespräch mit der JF. „Früher waren fast alle immer komplett ausgebucht. 2012 aber fuhren gerade einmal noch zwei.“ Noch heute sind die Spuren der goldenen Vergangenheit deutlich zu erkennen. Unzählige abgewrackte Dampfer liegen in den Häfen von Luxor und Assuan ausrangiert vor Anker oder rosten in alten, längst verlassenen Werften vor sich hin. An anderen schrubben eifrige Mannschaften fleißig den Dreck von der Hülle, streichen die Kabinen und Rezeptionssäle neu. Ein klein wenig, zeigt Walid sich optimistisch, geht es seit zwei Jahren wieder aufwärts. Doch bis zum Status quo ante wäre noch immer ein Siebenmeilensprung vonnöten. Zweifelsohne hat as-Sisi längst erkannt, daß der Tourismus allein kein Allheilmittel für die tiefsitzenden ökonomischen Wunden Ägyptens sein kann, auch wenn die Gäste langsam wiederkehren. 

Der Wüste Agrarflächen abtrotzen

Eine ganze Reihe von Megabaustellen wurde von der ägyptischen Regierung daher mit der Zielsetzung entworfen, ihren Staat im kommenden Jahrzehnt nahezu autark bewirtschaften zu können. Die Visionen as-Sisis umfassen dabei nicht nur die Komplettmodernisierung des Suez-Kanals: Ganze Großstädte sollen förmlich auf Sand gebaut werden, um der Bevölkerung Millionen von preiswerten Wohnungen zukommen zu lassen.

 Darunter fällt auch Ägyptens künftige neue Hauptstadt rund 40 Kilometer östlich von Kairo. Sie trägt noch keinen Namen, doch im Gouvernement Kafr asch-Schaich, an der Mündung des Nils ins Mittelmeer, entsteht derzeit bereits für umgerechnet rund 80 Millionen Euro Baukosten die größte Fischfarm des Nahen Ostens, eine weitere nahe dem Suez-Kanal. Im kommenden Jahrzehnt sollen hier jährlich circa 230.000 Tonnen Fisch gezüchtet werden, was in etwa der Summe des derzeitigen ägyptischen Importbedarfs entspricht. 

Und westlich von Kom Ombo, eine halbe Autostunde von Assuan entfernt, bauen ägyptische und deutsche Investoren seit November an einem der größten, mit drei Milliarden Euro taxierten Baukosten ebenso teuersten Solarparks Afrikas, dessen geplante Kapazität von 1,8 Gigawatt fast 90 Prozent jener des Assuan-Staudammes erreichen soll.

Assuan ist auch der Ausgangspunkt für das wohl größte, von as-Sisi seit je präferierteste aller Mammutvorhaben – und ebenso der daraus resultierenden vielfältigen Proteste: Denn südlich von hier beginnt das eigentliche Siedlungsgebiet der Nubier. Mit der Flutung des Nasser-Stausees wurden 130.000 nubische Bauern samt ihrer Familien aus dem Niltal vertrieben; umgesiedelt nach Kom Ombo und Assuan sowie, was ihre auf sudanischer Seite lebenden Landsleute betraf, in die nördlichen Provinzen Khartums. Der Staudamm war nötig für den wirtschaftlichen Aufschwung Ägyptens. Er liefert seitdem den Großteil der in Ägypten produzierten Energie. Mit einem Nachteil: Denn der fruchtbare Nilschlamm, von welchem Ägypten seinen Namen hat, lagert sich seitdem an den Mauern des Dammes ab, anstatt über den Nil ins Mittelmeer zu schwemmen.

Schlamm, der nun genutzt werden soll: und das im großen Stil. Im Rahmen des „1,5-Millionen-Feddan-Projektes“  (1 Feddan = 4.200 Quadratmeter) soll dieser Schlamm in das westlich von Assuan gelegene Gouvernement „Neues Tal“ befördert werden, um der Wüste insgesamt 6.300 Quadratkilometer neue Agrarfläche abzugewinnen. Insgesamt, so die optimistische Hochrechnung der ägyptischen Regierung, würde damit allein das Feddan-Projekt die landwirtschaftliche Nutzfläche Ägyptens um über 20 Prozent vergrößern. Der neu gewonnene Boden wiederum soll in Parzellen zu je zwei Hektar pro Kopf an junge Menschen aus den Metropolen verpachtet werden, welche sich bereit erklären, landwirtschaftlich tätig zu werden. 

Tatsächlich sind erste Erfolge bereits sichtbar: Hatte as-Sisi erst im Dezember 2015 den Startschuß für das Projekt gegeben, konnte die erste Ernte bereits fünf Monate später eingefahren werden. „Wir haben eine Menge Bürokratie und Korruption ausgeschaltet und eine Menge an Genehmigungen eingeholt, die andererweise zehn bis fünfzehn Jahre gebraucht hätten“, verkündete der ägyptische Präsident stolz während einer Visite der Erntearbeiter im Mai 2016 und warnte die neuen Siedler gleichzeitig: „Je mehr Erfolg ihr haben werdet, desto mehr böse Menschen werden Intrigen gegen euch spinnen. Seid vorsichtig.“

Arabisierung des Südens hält an 

Im Norden des Landes feiert die Öffentlichkeit as-Sisis Vorhaben in der Wüste bereits als gelungen. Für die Nubier in Assuan hingegen ist das 1,5-Millionen- Feddan-Projekt ein Schlag vor den Kopf. „Seit der Sadat-Ära haben die Nubier geduldig darauf gewartet, ihr Land zurückfordern zu dürfen“, berichtete ein ägyptischer Abgeordneter dem Nachrichtenmagazin The New Arab. „Die Strafe für ihre Geduld kann doch nicht sein, daß andere Leute jetzt kommen und dieses Land aufkaufen. Jeder weiß, daß diese Gegend nubisch ist.“ „Ihr verkauft unser Land“, war zu hören, als nubische Aktivisten vor wenigen Monaten für mehrere Tage die Straße zwischen Assuan und Abu Simbel blockierten.

Seitdem fürchten viele Nubier offenen Verrat: jenen des Staates, welchem sie eine Arabisierung ihrer Heimatgebiete vorwerfen, gegen ihre Grundrechte und schlußendlich auch gegen die ägyptische Verfassung von 2014 selbst. Im Artikel 236 heißt es dort nämlich, daß „der Staat an der Entwicklung von Projekten“ zu arbeiten habe, welche „die Einwohner Nubiens innerhalb von zehn Jahren in ihre angestammten Gebiete zurückbringen“. Großzügig versprach as-Sisi damals auch, den Nubiern 44 neue Ortschaften im südlichen Niltal bereitzustellen. Nur ein Jahr später allerdings erklärte er das gesamte Gebiet schlicht zur militärischen Sperrzone. Unbefugten, vor allem den Nubiern, ist der Zutritt zu diesem 125 Kilometer breiten Korridor an der Grenze zum Sudan nicht mehr gestattet.

Was den Nubiern bleibt, ist mit Protesten auf ihre Situation aufmerksam zu machen. So wie mit jener friedlichen Tanzveranstaltung vom September in Assuan, die von Sicherheitskräften aufgelöst worden war. Vom eigenen Staat marginalisiert zu werden, ist für die Nubier bereits zur Gewohnheit geworden: Noch immer findet sich in Ägypten keine einzige Schule, die in nubischer Sprache unterrichtet und keine Behörde, die Anträge auf nubisch entgegennimmt. Doch der kürzliche Gewaltexzeß kommt selbst für die nubischen Aktivisten überraschend. „Wie die Regierung jetzt mit uns verfährt“, erklärt die Kairoer Menschenrechtlerin Fatma Emam Sakory resigniert, „ist bedeutend anders als  früher.“