© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Das liebste Kind des Fiskus
50 Jahre Umsatzsteuer: Ein heißes Eisen, um das deutsche Politiker lieber einen Bogen machen / Sie sorgt für ein Drittel des Gesamtsteueraufkommens der öffentlichen Haushalte in Deutschland
Michael Wiesberg

Ein halbes Jahrhundert ist es her, daß in der damaligen Bundesrepublik das „Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes (Mehrwertsteuer)“ in Kraft trat. Ein prinzipielles Novum war diese indirekte Besteuerung nicht. Bereits 1918 verordnete „Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser“ im Namen des Reichs und „nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags“ eine „Allgemeine Steuer auf Lieferungen und sonstige Leistungen“.

Federführend ausgearbeitet wurde das erste Umsatzsteuergesetz (RGBl. Nr. 95/1918) im Reichsschatzamt von dem Leipziger Juristen Johannes Popitz, der später Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, Hochschullehrer und preußischer Finanzminister wurde, aber schließlich – als einer der Mitverschwörer des 20. Juli – am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.

Angesichts des exorbitanten Finanzbedarfs im Ersten Weltkrieg schien die Umsatzsteuer ein probates Mittel zu sein, zusätzliche finanzielle Mittel in die Hand zu bekommen. Die „Geburt eines Goldesels“, wie das Handelsblatt diese Steuer charakterisierte, führte rasch jedoch zu weiteren Begehrlichkeiten. Bei den anfangs 0,5 Prozent blieb es nicht: 1935 waren es schon zwei Prozent, 1946 drei und 1951 dann vier Prozent.

Geräuschlos ging 1968 die Einführung der zehnprozentigen Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug (wie sie im Steuerrecht heißt) nicht vonstatten. Wirtschaftsvertreter hielten die Einführung für überstürzt, nachdem sich bereits mehrere Vorgängerkabinette der damaligen Großen Koalition mit einer Mehrwertsteuerreform abgemüht hatten. Zu Beginn der Einführung waren in der Tat beileibe nicht alle Fragen geklärt; nur ein Teil der Durchführungsverordnungen war spruchreif, wichtige Erlasse befanden sich in der Warteschleife.

Vor fünfzig Jahren ging es nicht nur darum, mehr Geld für den Fiskus zu generieren. Ziel war auch, in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mittels einer Umstellung des Steuersystems eine Angleichung zu erzielen. Die – im Gegensatz zur Erbschaftsteuer oder dem Solidaritätszuschlag – von Arm und Reich zu zahlende Mehrwertsteuer entwickelte sich zur wichtigsten Einnahmequelle und umfaßt mittlerweile fast ein Drittel des Gesamtsteueraufkommens der öffentlichen Haushalte in Deutschland – oder wie es der Bundesfinanzhof treffend formulierte: „Die meisten Verkehrssteuern einschließlich der Umsatzsteuer haben keinen tieferen Sinn als den, dem Staat Geld zu bringen.“

Die SPD-FDP-Kabinette erhöhten genauso systematisch die Mehrwertsteuer (von zehn auf 13 Prozent) wie ihre schwarz-gelben Nachfolger (von 13 auf 16 Prozent). Die schamloseste Erhöhung erfolgte 2007: „Merkelsteuer, das wird teuer!“, so warnte die SPD im Wahlkampf 2005 vor der von der Union angekündigten zweiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung. Als Angela Merkel und Peer Steinbrück (SPD) dann gemeinsam regierten, stieg der Steuersatz sogar von 16 auf 19 Prozent. Nur die von Günther Oettinger (CDU) angeregte Erhöhung des ermäßigten Steuersatzes zur Deckung „des lebensnotwendigen Bedarfs“ (etwa für Nahrung oder Bücher) von sieben auf neun Prozent unterblieb.

Streit um soziale Ausnahmeregelungen

Zur Kasse gebeten wird nur der Endverbraucher. Jeder Unternehmer muß zwar für seine Umsätze Mehrwertsteuer entrichten, aber das ist in der Regel ein „durchlaufender Posten“: Ein Schneider kauft für 500 Euro Stoff und macht daraus einen Anzug, den er für 1.500 verkauft. Die 285 Euro Mehrwertsteuer, die er dabei von seinem Kunden bekommt, steht dem Finanzamt zu. Davon kann der Schneider aber 95 Euro „Vorsteuer“ für den Stoff abziehen. Der Bürger hat allerdings niemanden mehr, auf den er die Steuer abwälzen kann.

Während es in den eher marktwirtschaftlich orientierten USA nur eine von den Bundesstaaten festgelegte moderate Sales Tax – von null Prozent in Delaware, Montana, New Hampshire und Oregon bis 7,25 Prozent in Kalifornien – sowie allenfalls lokale Zuschläge gibt, langen die europäischen „Sozialstaaten“ kräftig hin: Inzwischen beträgt der Mindestsatz der allgemeinen Mehrwertsteuer in der EU 15 Prozent. Das überrascht, weil die Mehrwertsteuer Einkommensschwache prozentual deutlich mehr belastet. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) würden die unteren zwei Drittel der Bevölkerung bei einer Mehrwertsteuersenkung besser gestellt, als es bei einer Verringerung der Einkommensteuer der Fall wäre. Würde der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nur für Nahrungsmittel und den Nahverkehr um zwei Punkte auf fünf Prozent gesenkt, hätten Privathaushalte laut DIW 3,8 Milliarden Euro mehr in der Tasche.

Die Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent hat zwischen 2007 und 2016 zu Mehreinnahmen der öffentlichen Hand von 275 Milliarden Euro geführt – das mußte die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei (IVA6 Vw7204/17/10001) vor einem Jahr zugeben. Daher wollen die meisten Politiker nicht auf ihr liebstes Kind verzichten. Nur die AfD will die Mehrwertsteuer auf zwölf Prozent senken. Die Grünen versprachen im Wahlkampf, die Steuer „um ein bis zwei Prozentpunkte“ senken zu wollen. Aber dafür wollten sie „unsinnige Ausnahmen“ streichen – sprich: ihnen nicht genehme Waren und Dienstleistungen statt mit sieben mit 17 bis 18 Prozent belasten.

Das erinnert an eine seit 2010 propagierte Idee der arbeitgeberfinanzierten Initiative Neue soziale Marktwirtschaft (INSM): „16 Prozent auf alles.“ Die Begründung klingt gut: „Warum werden Windeln, Spielzeug und Kleidung für Kinder mit 19 Prozent besteuert? Und warum erhalten Hundefutter, Garnelen und Schnittblumen eine Steuerermäßigung?“, argumentiert INSM-„Botschafter“ Rolf Peffekoven.

Daß damit alle Nahrungsmittel und Bücher mit 16 Prozent besteuert würden, ist das eine. Daß es zu Mehreinnahmen von zwei Milliarden Euro kommen würde, das andere. Damit ließen sich „Transferzahlungen an Bedürftige“ organisieren, entgegnet das langjährige Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums. Da aber selbst in Luxemburg die Mehrwertsteuer inzwischen auf 17 Prozent geklettert ist, ist die INSM-Idee nur eine Finte, dem Normalbürger noch mehr abzupressen.

Einnahmen des Bundeshaushalts 2012–2017:  www.bundeshaushalt-info.de