© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/18 / 05. Januar 2018

Als die Auflösung begann
Der Kater nach dem irren Traum: Der Umbruch von 1968 wirft lange Schatten in unser Land
Matthias Matussek

An der Achtundsechziger-Revolte bin ich unschuldig, im wahrsten Sinne des Wortes: Ich war 14, als ich aus dem Jesuiteninternat in Bad Godesberg auf ein Gymnasium in Stuttgart wechselte, wo mein Vater, CDU, als Bürgermeister für Gesundheit, Familie und Soziales zuständig war. Ich segelte also aus einer streng gefügten Glaubensordnung in die Welt hinaus und in diesen endlosen Hippie-Sommer hinein wie ein junger Vogel, hinein in den allerschönsten Irrsinn, voll in der Pubertät, und sehr bald nicht mehr unschuldig, wofür ich noch heute unserem damaligen Au-pair-Mädchen dankbar bin.

Zu meiner Überraschung traf ich auf eine Welt, die selber ins Stadium der Pubertät eingetreten war. Junge Garden der Kulturrevolution in China, Hippies in Woodstock, tschechische Jugendliche im Prager Frühling, und selbst die Elterngeneration bei uns trug längere Haare, Fußballstars wie Gilbert Gress vom VfB-Stuttgart erst recht.

Merkwürdige Aufwallungen. Die Welt befand sich im Lockerungsmodus, im Westen besonders im Sexuellen mit „freier Liebe“, mit dem Aufklärer Oswalt Kolle und seinem großen Atlas der „Stellungen“, und Zeitschriften wie Jasmin und Twen mit ihren psychedelischen Softpornos.

Ja, die Sexuelle Revolution war längst kein Alleinstellungsmerkmal der „Kommune 1“ mit ihrem Postergirl Uschi Obermaier mehr, die war im Gegenteil relativ prüde trotz der Nacktfotos im Stern, weil sie dauernd über den neuen Menschen diskutierten. Die Mädchen draußen trugen Miniröcke und Hotpants, und die Beatles sangen in der ersten Satelliten-Direktschaltung rund um die Welt „All you need is love“.

Und da mein Vater beruflich nach Hamburg gerufen worden war, zog ich in Stuttgart in eine maoistische WG, pinselte Revolutionsparolen also in einer sturmfreien Bude, und die liberalen Mütter des liberalen Bürgertums ließen ihren Töchtern die Anti-Baby-Pille verschreiben.

Neue Horizonte, neue Welten, sozialistische Utopien, der Prager Frühling, ich schüttelte dem ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei Alexander Dubcek die Hand, den mein Vater 1969 in der Nähe von Bratislava, auf dem Weg in den Jugoslawien-Urlaub, im Garten seines Häuschens aufgespürt hatte.

Doch dann kühlte sich das Aufbruchsfieber, das rund um den Globus zu wandern schien, ab. Die deutschen Revolutionsstrategen nahmen ihre Indianerspiele tatsächlich furchtbar ernst, im Gegensatz zu mir, ich hatte zwar auch Marx-Poster in meiner Bude, aber ich hatte auch die Madonna von zu Hause mitgenommen, und bald wanderte das Marx-Poster in den Müll, und die Madonna blieb hängen, und sie erwies sich als treuere und innigere Begleitung durchs Leben.

Die Lockerungsübungen allerdings, der sogenannte Aufstand gegen die Vätergeneration, dauerte an, und es lockerte weiter an allen Schrauben, Joschka Fischer trat mit seiner Putztruppe auf auf dem Boden liegende Polizisten ein, mit dem Vietnam-Kongreß und den Kugeln auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke wurde die Situation als vorrevolutionär interpretiert, die Macht der Räte schien in Griffweite.

Antiautoritäre Kinderläden schossen aus dem Boden, eine ideologisch abgesicherte Verwilderung griff um sich, doch allmählich wandelte sich die Spaßguerilla in eine Stadtguerilla, die die Schriften der Tupamaros in Uruguay studierte. Und dann kippte das alles um in blutigen Ernst, und aus linken Theoretikern und Herumtreibern wurden die Killer der RAF.

Die Hippies träumten kiffend noch ein bißchen weiter vom „Neuen Menschen“ und Marcuses kalifornischen Versprechen einer nicht verdinglichten antikapitalistischen Gesellschaft. Der soziale Flurschaden manifestierte sich als erheblicher Dachschaden bei solchen, die diesen neuen Menschen formen wollten, und die Kinder fragten die Erzieher: „Müssen wir heute wieder spielen, was wir wollen?“

Strukturen brachen zusammen. Familien waren als Brutstätten der Repression enttarnt, Ehen sowieso, ein neues sozialdemokratisches Scheidungsgesetz sorgte für beschleunigte Trennungen, die Frauenbewegung machte spektakulär mobil, als einige sehr Bewegte dem Philosophen Theodor W. Adorno bei einem Vortrag über den „Klassizismus von Goethes Iphigenie“ ihre nackten Brüste entgegenhielten.

 Alles außer Rand und Band. Dazu sorgte die „Pille“ für eine Entkoppelung von Lust und Fortpflanzung, viele entschieden sich gegen Nachkommen. Hinzu kam ein paar Jahre später die, heute würde man sagen: mutige Bekenntnisschlagzeile auf dem Cover des Stern: „Wir haben abgetrieben“. Die Illustrierten, die Magazine blieben ihrer linken, antibürgerlichen Skandal-Pubertät verhaftet bis heute.

Selbst die Kirchen tobten mit: Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Liturgie zertrümmert, aus der Anbetung des Heiligsten wurde ein geselliges Beieinander, das „Aggiornamento“ sorgte für „Aktualisierung“ des Glaubens, das Heilige verschwand mit den Hochaltären, die Priester wandten sich vom Allerheiligsten um hin zur Gemeinde. Alle duzten sich, die Lehrer die Schüler, die Schüler die Lehrer, gleichzeitig öffneten sich die Universitäten für jeden, der es mal versuchen wollte und ließen 20 Semester Germanistik (und damit Ermäßigungen für U-Bahn und Mensaessen) durchaus zu.

Heute stelle ich fest: Die linke Ideologie war bald trostlos entleert und dogmatisch, die spannenderen Denker sind ein paar Jahrzehnte später auf der Rechten zu finden. 

Zwar hat sich der Mehltau der Achtundsechziger in ihrem Marsch über sämtliche Institutionen gelegt, aber es gibt neue Aufbrüche.






Matthias Matussek, Jahrgang 1954, arbeitete von 1987 bis 2013 beim Spiegel, danach für die Welt. Heute schreibt er als freier Autor unter anderem für die Weltwoche (Zürich).

  www.matthias-matussek.de