© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Belastete Kontinuitäten
Ein Marburger Historikerstreit um die NS-Vergangenheit des Osteuropa-Historikers Peter Scheibert
Oliver Busch

Peter Scheibert, geboren 1915 in Berlin, 1995 dort gestorben, ist als Osteuropa-Historiker in Erinnerung geblieben dank seiner „Geschichte der russischen revolutionären Ideologien“ zwischen 1840 und 1895 („Von Bakunin zu Lenin“, 1956) sowie aufgrund seiner monumentalen sozialgeschichtlichen Untersuchung der ersten Herrschaftsjahre des Urhebers der Oktoberrevolution („Lenin an der Macht“, 1984), die den linken Mythos vom „guten“, tatsächlich jedoch die Tscheka unablässig zu Mordorgien antreibenden Wladimir Iljitsch Uljanow entzauberte, demzufolge dessen Lebenswerk leider durch den „bösen“ Stalin zerstört worden sei.

Nach eigenem Bekunden „großzügig gefördert“ von der Rosa-Luxemburg-Stiftung der SED-Nachfolgepartei Die Linke hat Esther Abel Scheiberts Biographie zum Thema ihrer Bochumer Dissertation gewählt, die seit 2016 gedruckt vorliegt (JF 18/17). Die Anfänge ihrer Archivrecherchen reichen bis 2005 zurück, so daß schon die lange Bearbeitungszeit scheinbar von Gründlichkeit und Fleiß ihrer Forschungen zeugt. Gleichwohl fiel das Resultat etwas mager aus. Zum einen, weil Abel kaum etwas über Scheiberts wissenschaftliches Werk und dessen Standort im Kontext der Disziplingeschichte verrät. Die 700 Seiten von „Lenin an der Macht“, unterkellert mit 10.000 Fußnoten, „würdigt“ sie mit  wenigen Absätzen, die sich mangels eigener Kompetenz auf negative Rezensionen linksliberaler Fachgenossen des Autors stützen. Ebenso flüchtig fällt der Blick auf Scheibert als Ideen-historiker aus, der sich den weltanschaulichen Grundlagen des sowjetischen Terrorregimes widmete.

Abel interessierte sich eben nicht für Scheiberts Wissenschaft, sondern, weitgehend losgelöst davon, nur für Scheiberts Leben. Genauer gesagt für sein Leben als „Kunst- und Kulturguträuber“ im Dienst der „Nazis“, also für seine Kriegsjahre im Auswärtigen Amt, als Mitarbeiter bei der Auswertung erbeuteter Akten, als Dolmetscher im Sonderkommando Künsberg, das seit 1941 im Rücken der Ostfront mit der Beschlagnahme sowjetischer Archive befaßt war, unter anderem auch mit dem Abtransport des Smolensker Staatsarchivs für Zeitgeschichte, dessen Akten wertvolle Einblicke ins Innenleben der KPdSU und den NKWD-Terror versprachen. 

Das NSDAP-Mitglied Scheibert, krankheitsbedingt militärisch nicht verwendungsfähig, trug bei diesen Einsätzen die Uniform der Waffen-SS. Für Abel sind diese „Verstrickungen“ der Ausgangspunkt, um an Scheiberts Nachkriegskarriere als Professor für osteuropäische Geschichte in Marburg wie als gefragter Sowjetexperte exemplarisch eine Kontinuität des Antikommunismus vom Dritten Reich bis zur Bonner Republik zu konstruieren. Deshalb mißt sie seinen hochschulpolitischen Fehden in der nach 1968 sukzessive zum akademischen DKP-Leuchtturm ausgebauten, intern so genannten Herbert-Mies-Universität Marburg besondere Bedeutung zu. 

In einem 30seitigen Rezensionsessay sind die emeritierten Osteuropa-Historiker Inge Auerbach (Marburg) und Egbert Jahn mit Abels letztlich auf Diffamierung, Diskreditierung und nachträgliche „Anbräunung“ liberaldemokratischer Wissenschaftstraditionen zielenden Arbeit ins Gericht gegangen (Osteuropa, 1–2/2017). Mit diesem couragierten Angriff, der allerdings heute wohl nur noch aus der Sicherheit, die der Ruhestand gewährt, heraus vorzutragen ist, treffen Auerbach und Jahn wesentliche Elemente der sich an deutschen Hochschulen ausbreitenden Denunziationsunkultur, die geeignet ist, jedes historische Bewußtsein zu zersetzen. 

Statt Fakten nur suggestive Anschuldigungen

Gezielt werde das wissenschaftliche Wahrheitsethos ignoriert. Fakten müssen daher, wie bei Abel geradezu penetrant, durch „suggestive Anschuldigungen“ und Vermutungen ersetzt werden. Wenn es an aktenkundigen Beweisen für „Verbrechen“ fehlt, können Formulierungen den Leser zumindest „anregen“, sich eine „mittelbare Beteiligung selbst auszudenken“, etwa Scheiberts irgendwie doch möglicher Beitrag zur „Deportation der Juden nach Auschwitz“. 

Auf diese furchtbarste aller Moralkeulen kann keine Arbeit vom Zuschnitt Abels verzichten. Die gesamte Wirklichkeit von Wissenschaft und Hochschule zwischen 1918 und 1945 wird in Beziehung zu „Auschwitz“, also zum Völkermord an den Juden Europas gesetzt. Auch die „Ostforschung“, wo sich der erst 1939 promovierte Scheibert gar nicht engagieren konnte, und natürlich die Osteuropaforschung nach 1945, eben weil sie sich mehrheitlich antikommunistisch orientierte. Und weil die „Nazis“ bekanntlich die schlimmsten Antikommunisten waren, ist Antikommunismus untrennbar mit Auschwitz belastet.    

Abel hat auf diese Kritik geantwortet und wies sie erwartungsgemäß als „Apologie der Täter“ zurück (Osteuropa, 3-4/2017). Ihr Doktorvater Stefan Plaggenborg ist ihr mit dem bemerkenswerten, mit Rücksicht auf die neuere Rechtsprechung sogar korrekten Hinweis beigesprungen, Schuld lasse sich bei Sachverhalten zwischen 1933 und 1945 auch ohne konkreten Tatnachweis feststellen. Eine Entgrenzung, die der „Forschung“ à la Abel gewiß weiteren Auftrieb geben dürfte.