© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Rußland vom Diktator befreien
Smolensker Manifest: Vor 75 Jahren rief der russische General Wlassow zum Widerstand gegen Stalin auf
Jürgen W. Schmidt

Ein Vordenker der Wlassow-Armee, der vormalige zaristische Offizier und ethnische Grieche Oberst Konstantin Kromiadi (1893–1990) begrüßte am 23. Dezember 1944 in großer Rede vor Ostarbeitern in Sosnowiec die aus der Not geborene deutsch-russische Waffenbrüderschaft. 

Obwohl diese „Waffenbrüderschaft“ ein reines Zweckbündnis sei, nütze „man die Hilfe Deutschlands unter Bedingungen, die weder die Ehre noch die Unabhängigkeit unserer Heimat verletzen. Diese Hilfe stellt gegenwärtig die einzige reale Möglichkeit dar, den bewaffneten Kampf gegen die Stalinsche Clique zu organisieren“. Doch wenn die angekündigte Befreiung Rußlands von der Stalin-Diktatur das vorrangige Ziel jenes deutsch-russischen Zweckbündnisses war, dann hatte man eindeutig zu spät und vor allem viel zu inkonsequent das gewaltige Potential der mit Stalin unzufriedenen Sowjetbürger, vor allem der millionenfach in deutscher Kriegsgefangenschaft befindlichen Generale, Offiziere und Soldaten der Roten Armee, auszunutzen begonnen. 

Fast gleich nach Kriegsbeginn im Juni 1941 reihte man zwar massenhaft willige Kriegsgefangene an der Ostfront als sogenannte „Hiwis“ (Hilfswillige) in deutsche Einheiten und Truppenteile ein. Als Handwerker, Kutscher, Verpflegungssoldaten und als aktive Kämpfer mit der Waffe standen sie hier ihren Mann und ersetzten das immer knapper werdende deutsche Personal. Dazu kamen schnell Einheiten in Kompanie- und Bataillonsstärke, welche als „Ostreiter-Schwadronen“ oder als „Kosaken-Hundertschaften“ unter deutschem Führungspersonal eigenständig lokale Kampf- und Sicherungsaktionen durchführten. Dann jedoch geriet am 12. Juli 1942 im Wolchow-Gebiet jener sowjetische Generalleutnant in Gefangenschaft, welcher der späteren stalinfeindlichen russischen Militärorganisation ihren inoffiziellen Namen „Wlassow-„Armee“ geben sollte. 

Der 1901 geborene Andrej Wlassow durcheilte ab 1919 in der Roten Armee eine schnelle Karriere. Als Kommandeur des 4. mechanisierten Korps und Träger hoher Orden trat Generalmajor Wlassow im Juni 1941 in den Krieg ein. Bei Kiew und vor Moskau Ende 1941/Anfang 1942 bewährte sich der nunmehrige Oberbefehlshaber von Schützenarmeen Wlassow, avancierte zum Generalleutnant und errang sich die Anerkennung Armeegeneral Schukows wie auch Stalins. 

Erst 1944 konnte Wlassows Armee in Kämpfe eingreifen

Doch als neuer Oberbefehlshaber der 2. Stoßarmee an der Wolchowfront konnte selbst Wlassow die dort völlig verfahrene Lage nicht mehr retten und geriet in deutsche Gefangenschaft. In der Gefangenschaft offenbarte sich Wlassow aufgrund seiner bisherigen Lebens- und Kriegserfahrung als Antistalinist und trat zusammen mit anderen kriegsgefangenen Offizieren als Verfasser eines Memorandums an das deutsche Oberkommando auf, in welchem man die massenhafte Aufstellung nationalrussischer Verbände aus sowjetischen Kriegsgefangenen vorschlug. 

Genau vor 75 Jahren trat Wlassow Ende Dezember 1942 auch politisch in der Öffentlichkeit hervor, indem er gemeinsam mit drei weiteren kriegsgefangenen sowjetischen Generalen und dem Bürgermeister von Smolensk alle Angehörigen der Roten Armee zum Kampf gegen Stalin aufrief. Doch in seiner Hybris erkannte man damals in der Führung des Dritten Reiches nicht, daß hierin der Schlüssel zur militärischen Niederwerfung der stalinistischen Sowjetunion lag. Adolf Hitler hatte eine viel zu geringe Meinung von den „slawischen Untermenschen“, welche zudem als militärische Bündnispartner und nicht etwa als reine Söldlinge behandelt werden wollten. 

Immerhin gelang es bis 1944 unter maßgeblichen Anleitung des wohl befähigtsten operativen Denkers unter den in wachsender Zahl zur Wlassow-Bewegung stoßenden Ex-Sowjetgenerälen, wenigstens ein dichtes Netz aus militärischen Lehreinrichtungen, Propagandaschulen und sonstigen Fortbildungseinrichtungen für eine künftige russische Nationalarmee zu schaffen. Bei jenem General handelte es sich um Generalmajor Fedor Truchin (1896–1946), welcher in der Roten Armee vor und während des Krieges eine Reihe hoher Generalstabsstellungen bekleidete. 

Erst als der Krieg schon so gut verloren war, gelang es Heinrich Himmler Hitler zu bewegen, dem für seine stets überzeugungstreue Haltung in Berlin-Dahlem unter Hausarrest gestellten Generalleutnant Wlassow freie Hand zur Schaffung einer „Russischen Befreiungsarmee“ (ROA) zu geben, welche vorerst zehn Schützendivisionen, vereint in einer eigenständigen Armee, umfassen sollte. Das politische Schlüsseldokument zur Schaffung der ROA war deren am 14. November 1944 in Prag veröffentlichtes „Prager Manifest“.  

Vehement verlangte Wlassow außerdem, ihn mit seiner ROA der Heeresgruppe von Marschall Rokossowski gegenüberzustellen, welchen er dann unweigerlich auf die deutsche Seite herüberzuholen versprach, weil der Marschall innerlich Antistalinist sei. Bis April 1945 gelang es, ganze drei Divisionen jener ROA aufzustellen, wobei russische Truppenteile vereinzelt durchaus erfolgreiche Kämpfe mit Verbänden der Roten Armee führten. Als sich Ende April 1945 die Kriegsniederlage Deutschlands unübersehbar abzeichnete, versuchte die Masse der ROA-Verbände anläßlich des Prager Aufstandes vom Mai 1945 erfolglos einen Seitenwechsel auf die sowjetische Siegerseite. Andere ROA-Einheiten versuchten sich bei den westlichen Alliierten in Sicherheit zu bringen. 

Alliiierte lieferten Wlassows Soldaten gnadenlos aus

Doch die sowjetische militärische Spionageabwehr fahndete eifrig nach jedem früheren ROA-Soldaten und besonders natürlich nach deren Kommandeuren, welche früher einmal hohe sowjetische Militärs gewesen waren. In den Jahren 1945/46 wurden in Moskau viele Prozesse gegen ROA-Kader geführt und die Führungsschicht der ROA fast völlig ausgelöscht. Auch die zu den Alliierten geflohenen ROA-Soldaten hatten ein ähnliches Schicksal, denn gnadenlos wurden sie fast alle von den US-Amerikanern und Engländern an den rachedürstenden Stalin ausgeliefert. 

Ob es sich bei der ROA um eine (gescheiterte) Möglichkeit zum militärischen Sturz der Stalin-Diktatur handelte oder nur um eine Ansammlung verachtenswerter Quislinge und Vaterlandsverräter, darum wird heute noch in Rußland in Publizistik und Geschichtsschreibung heftig gestritten. Die nach 1990 angestrengten Rehabilitierungsverfahren für hingerichtete ROA-Mitglieder sind zumeist gescheitert. Mit einen Ukas des Obersten Sowjets der UdSSR vom 16. Mai 1990 wurden sogar nachträglich noch dem am 1. August 1946 in Moskau gehängten Generalleutnant Wlassow alle seine Orden inklusive des Lenin-Ordens entzogen, was man 1946 schlichtweg vergessen hatte. 2011 erschienen hingegen im namhaften Moskauer Verlag „Vece“ die ungekürzten Memoiren des erwähnten Konstantin Kromiadi in hoher Auflage unter dem Titel „Für das Land, für die  Freiheit – Erinnerungen eines Mitkämpfers von General Wlassow“.