© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

Weihnachten am Bahnhof
JF-Reportage unter Berliner Obdachlosen: An Essen und Kleidung mangelt es nicht, aber mit einer Perspektive sieht es ganz schlecht aus
Martina Meckelein / Christian Rudolf

Weihnachten auf der Straße, Weihnachten am Bahnhof Zoo. So wird es vielen der geschätzt 6.000 bis 8.000 Obdachlosen in Berlin gehen, die in der kalten Heiligen Nacht „keinen Raum in der Herberge“ der bürgerlichen Gesellschaft haben werden. Keine behaglich geheizte Stube erwartet sie, kein kräftiges Festessen, kein geselliges Beisammensein im Familienkreis unterm Christbaum. Auch keine menschliche Zuwendung. Statt dessen Kälte, Einsamkeit, Angst. Nicht wissen, wie es weitergehen soll.

Die Zahl der Obdachlosen ist zuletzt wieder gestiegen, in ganz Deutschland sollen es nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) 52.000 Personen sein. 2014 gab es mit 39.000 Menschen, die auf der Straße hausten, ein Drittel weniger Obdachlose. Der Verein beruft sich dabei auf die Erhebungen von Hilfsorganisationen.

Besser obdachlos als Gewalt in der Drückerkolonne

Aber das sind Zahlen. 5.000, 8.000 – eine bloße Statistik. In den zugigen Gängen, Ecken und Unterführungen des Bahnhofs Zoologischer Garten werden die Ziffern Gestalt. Dort sehen wir in die Gesichter von Menschen, denen es dreckig geht.

Wie in das von Werner K. Der Mann friert. „Auf der Straße leben ist scheiße – gerade jetzt.“ Werner (54) steht in einer windgeschützten Ecke am Haupteingang des früher berüchtigten Verkehrsknotenpunkts im Westteil der Stadt. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ – die Siebziger-Jahre-Geschichte der jugendlichen Heroinabhängigen Chrstiane F. machte die Bahnstation weltbekannt. Die Rauhlederjacke, die Werner trägt, hat er von der Bahnhofsmission. „Ich bin jetzt fünf oder sechs Wochen auf der Straße, es reicht mir jetzt schon.“ Werner K. ist gelernter Schiffsbauer. „19 Jahre habe ich bei der Elbewerft in Boizenburg gearbeitet. Doch die ging pleite.“ Werner K. jobbte dann für Leiharbeiterfirmen auf Werften, sagt er. Mit der Bahn kam der geborene Zarrentiner nach Berlin – auf der Flucht vor seinem letzten Arbeitgeber. „Ich arbeitete als Scherenschleifer in einer Drückerkolonne aus Hamburg. Tagsüber fuhren wir mit zwei Schleifbussen über Land. Wir wohnten in einem Wohnwagen, mußten 100 Euro am Tag machen, sonst gab es nichts zu essen, und immer diese Schlägereien. Das wurde mir zu gefährlich, da mußte ich weg.“ Während er das erzählt, zieht er so stark an der Zigarette, daß sie tiefrot aufglüht. Er raucht seit 40 Jahren, Schneidezähne fehlen, vor zwei Jahren erlitt er einen Schlaganfall, die rechte Hand ist teils gelähmt. Werner K. setzte sich in einen Zug nach Berlin. „Der Schaffner war schon in Ordnung. Ich hatte natürlich keine Fahrkarte. Der sagte nur, daß ich im nächsten Bahnhof aussteigen muß – das war dann Berlin. Der hat schon gemerkt, was mit mir los ist.“

Die Angst vor der Drückerkolonne ist größer als die Angst vor der Straße. „Hier ist es auch sicherer als in den Heimen für Obdachlose, täglich Schlägereien, und die Bewohner klauen dort.“ Deshalb liegt Werners Schlafsack unter einem Brückenbogen am Bahnhof.

Entlang der grauen Wand liegen Matratzen, Isomatten, Schlafsäcke, stehen Zelte und Einkaufswagen. Unter einem Deckenberg lugt der schwarze Schopf eines Schlafenden hervor. „Wir machen das so, daß immer einer da bleibt und aufpaßt, daß nichts geklaut wird.“ Von hier sind es keine hundert Meter zum Fundort der Leiche von Susanne Fontaine. Die Kunsthistorikerin war im September von einem Tschetschenen im Großen Tiergarten getötet worden (JF 43/17).

Auf der anderen Straßenseite unter der Brücke, hinter einem Bauzaun, liegen ebenfalls Schlafsäcke. An einem Ende des Matratzenlagers steht ein geschmückter Weihnachtsbaum. „Da wohnen die Polen“, sagt Werner K. Über die weiß er nichts Gutes zu sagen. „Die sind laut, schwatzen die ganze Nacht, die sind gefährlich. Zumal ich ja nicht deren Sprache spreche, keiner versteht die.“ Gestern nacht sollen zwei Neue angekommen sein. „Der eine hatte ein Zelt dabei und zwei Flaschen Wodka. Morgens kam der so besoffen aus dem Zelt raus, daß er darauf fiel.“ Manche Polen würden sich nach seinen Beobachtungen in der Kleiderkammer der Bahnhofsmission mehrmals Schlafsäcke geben lassen und diese dann verkaufen.

Geld verdient Werner K. durch Flaschen- und Dosensammeln. „Zu Essen gibt es immer“, sagt Werner K. Entweder in der Bahnhofsmission oder von Passanten. „Manchmal werde ich zu einer Currywurst eingeladen.“ Die Berliner seien freundlich zu den Obdachlosen. „Da gibt es Leute, die bringen Wärmflaschen vorbei oder dicke Decken.“

An einem anderen Eingang stehen Martina Kirschner-Kontolaimakis (54) und ihr Mann Zacharias (49) mit der 13jährigen Hündin Serina. Ihre Erzählung kündet davon, wie brutal es ist, im Abseits zu stehen. Sie würden überall hinausgeworfen, geschlagen, beraubt, bespuckt. „Ich bin seit dem 20. September, mein Mann seit dem 14. Oktober in Berlin auf der Straße.“ Aus der Frau sprudelt es nur so heraus. „Vorher wohnten wir in einem Wohnheim, doch da mußten wir weg, weil niemand den Hund haben will. Jetzt übernachten mein Mann und ich getrennt in Wohnheimen. Er mit dem Hund, ich alleine. Ihre Hinterläufe sind kaputt. Ein Mann ist ihr absichtlich draufgetreten.“ In Notübernachtungen wollten sie nicht. Die schlimmste sei in der Lehrter Straße, unweit des Hauptbahnhofs, betrieben von der evangelischen Stadtmission. „Da halten sich Banden auf, da darf jeder rein, auch Betrunkene. Die schlagen und klauen, zumal die Rumänen. Die haben Krätze und Läuse. Wenn man da reingeht, die Treppe hoch, wird man bedrängelt – so klauen die einem alles aus den Taschen. In den Zimmern stehen acht Betten, aber manche schlafen auch auf den Tischen.“ Drogenkonsum sei dort gang und gäbe. Unkundige ließen sich Joints für zehn Euro pro Stück andrehen. „Dort hat mich ein Mann geschlagen und mir die letzten 150 Euro geklaut.“ 

Martina hofft auf ein besseres Leben. „Ich bin ja Berlinerin aus Charlottenburg und Kunstmalerin, lebte mit meinem Mann fünf Jahre auf Kreta, da hatten wir ein Restaurant.“ „Eine Kantina“, führt ihr Mann Zacharias aus, „and a big House.“ Doch, so erzählt es Martina, dort habe ihr Schwiegervater sie nicht gewollt. „Ich bin nach Berlin, um hier meine Bilder zu verkaufen und Flyer zu machen für unser Restaurant als Werbung.“ Dann zeigt Zacharias Fotos von Kreta. Sein Haus, die Kantina, ein Gemälde von Martina, das Angela Merkel zeigt. Martina überlegt sich, in die CDU einzutreten, „damit es in der Politik besser wird“. An Plänen mangelt es ihr nicht. Sie will eine Wohnung finden und dann ein Geschäft in Köpenick eröffnen. Aber jetzt muß sie erst zur Polizei. Anzeige gegen den Rumänen erstatten, der sie bestohlen hat.

„Die Straße ist gefährlich, immer mußt du aufpassen“

Über die Brücke verkehren Züge und S-Bahnlinien, unter den Gleisen fahren Busse zur Endstation. Bisweilen ist es so laut, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Zwischen mit Decken behangenen Einkaufswagen als Windschutz sitzt auf einem Matratzenlager Miroslav S. Dunkle Mütze, dunkler Anorak. „Ich dolmetsche hier. Aber sagt doch Miro zu mir.“ Der großgewachsene Slowake ist 45, nach eigenen Angaben seit zweieinhalb Jahren in Berlin und kann sich in einem halben Dutzend Sprachen verständigen. Aus einem Stoppelbartgesicht gucken braune, wache Augen. Seine Nase ist verbeult. „Ein Russe hat mich blutig geschlagen, ins Gesicht, letzte Woche war das. Den ganzen Tag floß mir das Blut aus der Nase. Meine Freundin hat er getreten.“ Unter der Decke hinter ihm zeichnet sich flach die Silhouette eines Menschen ab. Die beiden hätten sich hier erst kennengelernt. Miroslav ging zur Polizei. Und hat jetzt Angst vor dem Schläger. „Der ist seit ein paar Tagen nicht da. Aber weiß ich, ob er nachts kommt?“

Miro lebe auf der Straße, weil das Jobcenter ihn abgewiesen habe. „Das Amt hilft nicht, weil wir keine Arbeit haben. Man hat mir viel versprochen beim Jobcenter, aber nichts gehalten.“ Ohne Arbeit keine Wohnung, und ohne Wohnung keine Arbeit. Ein Teufelskreis. „Auf der Straße ist es gefährlich, immer mußt du aufpassen. Das Schlimmste ist der Neid der anderen. Hast du was bekommen, wollen sie es dir abjagen.“ Der Schlafplatz unter der Brücke sei dennoch gut, denn: „Gleich um die Ecke ist die Polizeiwache.“ Schlimm seien nur die Polen und die Russen: „Wenn die sich betrinken, kennen die keinen Bruder mehr. Die Deutschen tun einem aber nichts.“

Miro stammt aus Kaschau (Košice). „In der Slowakei habe ich viele Jahre in Krankenhäusern gearbeitet, in vier verschiedenen Abteilungen. Das habe ich so gern gemacht!“ Und in fließendem, präzisem Deutsch zählt er sie auf: Anästhesie, Kinderklinik, Intensivstation, Unfallchirurgie. „Ich habe immer die schweren Fälle gemacht. Verbrennungen, na und so weiter ...“

Bis 2013 habe Miroslav dann in Deutschland acht Jahre als Pfleger Demenzpatienten häuslich betreut.Vermittelt hatte ihn eine slowakische Agentur. „Das ging nur über Telefon. Geld haben die mir überwiesen.“ Alles ging gut, bis die Agenturbetreiber verschwanden. „Ich fuhr nach Košice zurück, auf eigene Kosten, kam dahin und die Agentur war weg! Einfach weg!“ Dann begann das Elend. „Ich hatte keine Arbeit mehr, war nicht mehr krankenversichert. Beim Sozialamt in Košice sagte man mir: ‘Sie haben ein Anrecht auf monatlich 62,50 Euro.’ Aber was fängst du damit an? Das ist nichts! Also bin ich fortgegangen.“

In seiner Heimat hat Miro niemanden mehr, keine Freunde, keine Verwandten. „Meine Mutter ist tot, mein Vater ist tot, die Großeltern, bei denen ich aufgewachsen bin, sind tot. Geschwister habe ich keine. Die Wohnung aufgelöst. Also, was soll ich da?“

Wie er Weihnachten verbringt, weiß er noch nicht. „Für uns ist ein Tag wie der andere. Wir würden gern sofort weg von hier, sofort. Aber wohin?“ Hilflos zuckt er mit den Achseln.