© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/17-01/18 22. Dezember / 29. Dezember 2017

„Wir waren nicht vorbereitet“
Gedenken: Erst ein Jahr nach dem islamistischen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt nimmt der Staat öffentlich sichtbar Anteil
Christian Vollradt

An diesem naßkalten Dienstagvormittag im Dezember ist der Berliner Breitscheidplatz wahrscheinlich einer der sichersten Orte im ganzen Land. Die Staatsspitze ist anwesend, der Bundespräsident, der Bundestagspräsident, der Präsident des Abgeordnetenhauses, die Bundeskanzlerin. Sie nehmen teil an der Gedenkfeier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, gemeinsam mit Hinterbliebenen und Überlebenden des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt. Dort, wo vor einem Jahr der tunesische Asylbewerber und Islamist Anis Amri einen gestohlenen Lastwagen in die Gasse zwischen den Ständen gesteuert, zwölf Menschen getötet und rund 70 weitere zum Teil schwer verletzt hatte, weihen sie eine Gedenkstätte mit den Namen der Opfer ein. 

Ungewöhnlich still ist es, kein Auto fährt über die mehrspurigen Straßen am Tauentzien. Dort, wo man sonst zu den Buden und Verkaufsständen gehen kann, versperren Gitter den Weg. Polizisten mit Maschinenpistole vor der Brust haben sich davor postiert. In einiger Entfernung, am berühmten Café Kranzler, parkt ein gepanzerter Sonderwagen der Polizei. Nur ein begrenzter Personenkreis hat Zugang zum Platz vor der Gedächtniskirche, selbst Reporter brauchen zwei Sonderausweise. 

Wie das Gedudel der Weihnachts-Schlager, so fehlt auch der Duft von Glühwein, gebrannten Mandeln oder Bratwürsten. Der Breitscheidplatz hält inne, wenigstens für eine Weile. Ein Jahr danach ... 

„Merkel hat das Blut meines Sohnes an den Händen“

„Wir trauern um zwölf Menschen aus Deutschland, aus Polen, Tschechien und der Ukraine, aus Israel und Italien, um Frauen und Männer, die in Berlin lebten, ihrer Arbeit nachgingen oder hier zu Besuch waren“, sagte Bundespräsident Steinmeier während der interreligiösen Andacht und fügte hinzu: „Ich will Ihnen versichern: Wir lassen Sie mit alldem nicht allein.“

Nach dem Dank an Einsatzkräfte und Helfer folgen selbstkritische Worte in Richtung Politik: „Zur Wahrheit gehört auch, daß manche Unterstützung spät kam und unbefriedigend blieb.“  Und daß so rasch nach der Tat die Devise „Wir lassen uns nicht einschüchtern“ ausgegeben worden sei, habe bei Hinterbliebenen und Verletzten mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz Unverständnis hervorgerufen, gibt Steinmeier zu. 

Auch die Bundeskanzlerin spricht in ihrem kurzen Statement nach der Gedenkveranstaltung von „Schwächen, die unser Staat in dieser Situation gezeigt“ habe. „Für mich – und das sage ich für die ganze Bundesregierung – heißt das, daran zu arbeiten, daß wir die Dinge, die nicht gut gelaufen sind, besser machen“, verspricht Merkel, auf deren Verhalten unmittelbar nach dem Anschlag sich die Kritik Überlebender und Hinterbliebener in einem offenen Brief fokussiert hatte (JF 51/17). Ihre späte, zu späte Zusammenkunft mit den Betroffenen am Vorabend des Jahrestages sei „ein sehr schonungsloses Gespräch“ gewesen, so Merkel. Sie kündigte an, die Hinterbliebenen „in einigen Monaten“ noch einmal zu treffen, „um deutlich zu machen, was wir gelernt haben und was wir in Zukunft anders machen werden, und damit zu helfen, diesen großen Anschlag auch so zu überwinden, daß wir als Staat das Notwendige in Zukunft tun können.“

Die Defizite und Fehler hatte schon eine knappe Woche zuvor der Beauftragte der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz, Kurt Beck, bei der Vorstellung seines Abschlußberichts benannt. Vorneweg die fehlende Empathie. Er könne verstehen, daß sich die Betroffenen eine größere demonstrative Anteilnahme des Staates gewünscht hätten. „Respektlos“ habe sich der deutsche Staat gezeigt, so der Vorwurf der Familie des getöteten polnischen Fahrers Lukasz Urban. Wenigstens „ein persönliches Kondolenzschreiben“ hätten sich seine Angehörigen gewünscht. „Ich möchte Frau Merkel sagen, daß sie das Blut meines Sohnes an ihren Händen hat“, beklagte sich die Mutter Janina Urban gegenüber der Deutschen Welle.

Wenn man sehe, wie etwa der französische Präsident mit solchen Situationen umgegangen ist – mit öffentlichem Gedenken, einer persönlichen Zuwendung zu den Betroffenen, dann könne man diese Diskrepanz spüren – „und da hat es eben das Gefühl der Nichtbeachtung, der Zurücksetzung, gegeben“, meinte der frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Seine Erklärung: „Wir waren in Deutschland nicht auf solch einen Anschlag vorbereitet.“   

Das zeigt sich auch an Becks Amt selbst: Zu spät – erst am 8. März dieses Jahres – wurde der Opferbeauftragte eingesetzt, beklagten viele Betroffene. So fehlte ein zentraler Ansprechpartner. „Es gab Erfahrungen, die dürfen sich nicht wiederholen“, forderte der SPD-Politiker. Dazu zähle, daß Angehörige zu lange ohne Informationen über das Schicksal der Opfer geblieben seien oder etwa versehentlich Rechnungen für die Obduktion bekommen hätten. Schmerzhaft für einige Hinterbliebene war vor allem die Ungewißheit. Manche mußten von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Polizeistelle zu Polizeistelle rennen, ohne eine klare Auskunft zu erhalten. Internationale Vereinbarungen schreiben vor, daß erst mit einem gentechnischen Beweis die Identifizierung eines Toten abgeschlossen ist. Einige Opfer in Berlin hatten jedoch Personaldokumente bei sich, da hätte man eine vorläufige Identifizierung den Angehörigen bekanntgeben können, ist Beck überzeugt.

Wenn ihm von seiten seiner mehr als hundert Gesprächspartner von den Behördenschreiben berichtet wurde, denen jede Sensibilität gefehlt habe, „dann kommt einem der kalte Zorn hoch“, gibt Beck zu. Daran hat sich allerdings auch ein Jahr später nichts grundlegend geändert. So wieherte der Amtsschimmel aus den Berliner Behörden fleißig weiter und ermahnte Angehörige im Einladungsschreiben zur Gedenkfeier, daß Taxikosten nicht übernommen würden. Wer den schweren Gang zur Erinnerung an getötete Angehörige auf sich nehmen wollte, war also angehalten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.  

Überhaupt: das Geld. Der Opferbeauftragte plädiert in seinem Abschlußbericht vehement dafür, die materielle Hilfe für Betroffene aufzustocken. Ehe- und Lebenspartner, Kinder und Eltern eines durch einen Terroranschlag Getöteten erhalten als sogenannte Härteleistung 10.000 Euro, Geschwister 5.000 Euro. Verletzte bekommen pauschal bis zu 7.500 Euro. Beck sagte, damit rangiere Deutschland im internationalen Vergleich „höchstens im unteren Mittelfeld“. Geschädigte erhalten je nach Ausmaß ihrer Schädigung derzeit zwischen 141 und 736 Euro pro Monat. Hinterbliebene 443 Euro (Witwen/Witwer bzw. Lebenspartner), Halbwaisen 124 Euro und Vollwaisem 233 Euro monatliche Grundrente. Opfer aus Nicht-EU-Staaten sollten künftig bei der Entschädigung nicht mehr schlechter gestellt werden. 

Abhilfe verlangt der Opferbeauftragte auch beim Wirrwarr der verschiedenen Zuständigkeiten. So sei beispielsweise die Verkehrsopferhilfe – ein Fonds von Versicherungsunternehmen – nur deshalb beteiligt, weil Amri als Tatwerkzeug einen Lastwagen benutzt hatte. Wörtlich heißt es in Becks Abschlußbericht dazu:„Wäre der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz also ohne Kraftfahrzeug, aber beispielsweise mittels eines Sprengsatzes erfolgt, hätten die Weihnachtsbudenbesitzer weder einen Ersatz für materielle Schäden noch einen Ersatz für ihren Verdienstausfall erhalten.“ 

Umgekehrt bedeutet das: Da Amris erstes Opfer, der polnische Lkw-Fahrer Lukasz Urban, erschossen (und nicht etwa überfahren) worden war, erhielten dessen Hinterbliebene aus diesem Topf nichts. Zwar traten hier vom Bundesamt für Justiz verwaltete Härteleistung ein, allerdings nicht im selben Umfang wie es die Verkehrsopferhilfe getan hätte, so der Bericht. 

Als Reaktion darauf hat sich Bundes-innenminister Thomas de Maizière (CDU) nicht nur für eine grundlegende Reform der Entschädigungen bei Terroranschlägen ausgesprochen, sondern auch dafür plädiert, daß die Opfer des Attentats auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz rückwirkend von einer Neuregelung profitieren können. Sein Kabinettskollege Heiko Maas (SPD) sagte vergangene Woche, das Kabinett habe die Kritik im offenen Brief der Hinterbliebenen „respektiert und akzeptiert“. Aus den Fehlern der Vergangenheit habe man politische und gesetzliche Konsequenzen gezogen. Er betonte jedoch, man habe trotz einzelner Versäumnisse alles getan, das Risiko eines Terroranschlages so gering wie möglich zu halten. „Absolute Sicherheit kann es in einer freien Gesellschaft nicht geben“, so Maas. 

So gelobt also die Regierung einhellig Besserung für die Zukunft, spricht von Fehlern in der Vergangenheit – persönliche Konsequenzen indes hält offenbar niemand für nötig. Bis heute hat es trotz aller dokumentierten Versäumnisse im Fall Amri (JF 51/17) keinen einzigen Rücktritt gegeben. Opferbeauftragter Beck fordert: „Es gibt nur einen Weg: alles aufarbeiten!“ 

Am Dienstag nachmittag nimmt erst einmal der Nieselregen zu, die Absperrgitter werden eingeräumt. Die Betonpoller bleiben. Normalität kehrt langsam wieder ein auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.