© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Vom Gefühl dominiert
Urdeutsch: Das Nibelungenlied wirkt als geschichtspolitischer Mythos fort
Thorsten Hinz

Das Nibelungenlied – „daz maer“ – ist erst spät, im 19. Jahrhundert, populär geworden, als das Streben nach nationaler Einheit akut wurde und schließlich erfolgreich war. Politiker, Gelehrte, Künstler, Publizisten nahmen rhetorische Anleihen; ihre Begebenheiten und Figuren dienten als Erklärungs- und sogar handlungsleitende Muster. Der Republikaner Georg Herwegh gab spöttisch die verbreitete Stimmung nach der Reichseinigung 1871 wider: „Der welsche Drache liegt bezwungen,/ Und Bismarck-Siegfried kehrt nach Haus“. Auch unheilschwangere Parallelen zum Verteidigungskampf an Etzels Hof wurden gezogen, in denen sich die Furcht vor der Einkreisung widerspiegelte. Das Nibelungenlied wurde so als sinnstiftende und integrative Erzählung, als politischer Mythos etabliert.

Die „Hunnen-Rede“ und die „Nibelungentreue“ gingen in den Sprachschatz ein, ebenso der „Siegfrieden“, die „Siegfried-Linie“ und schließlich der „Dolchstoß“, der an den Meuchelmord am strahlenden Helden gemahnte. Hermann Göring verglich am 30. Januar 1943 die Soldaten im Kessel von Stalingrad zynisch mit den Nibelungen, die im brennenden Saal der Etzelburg ihren Durst mit Blut gelöscht hatten.

Die eingemauerte DDR als Stalingrad-Kessel

Dem im Führerbunker ausharrenden Hitler war das als Vorlage nicht dramatisch genug. Der überspannte Wagnerianer wollte sein Ende als Weltenbrand, als Götterdämmerung vollziehen und äußerte laut Albert Speer: „Wenn der Krieg verlorengeht, wird auch das deutsche Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft.“ Um ein Haar erfüllte sich, was der Dichter Felix Dahn 1859 als den „zweiten Kampf der Nibelungen“ angekündigt hatte: „Brach Etzels Haus in Glut zusammen,/ als er die Nibelungen zwang./ So soll Europa stehn in Flammen/ bei der Germanen Untergang.“

Damit hätte sich, meinte Herfried Münkler in dem Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009), das „geschichtswirksame Potential“ des Nibelungenlieds erschöpft. Es sei wieder die ausschließliche Angelegenheit der Literatur und der Kunst geworden. Im Westen hätten nach 1945 das Wirtschaftswunder, im Osten der Antifaschismus seinen Platz als politischer Mythos eingenommen. Er hätte Franz Fühmanns Ballade „Der Nibelunge Not“ aus den frühen 1950er Jahren zitieren können, in der „die Täter, die Nibelungen,/ die Töterdynastie“ in den Orkus verabschiedet werden: „Die Völker atmen und bleiben, / die Mörder löscht der Tod. / Nur als Fluch durch die Zeiten zu treiben: / das ist der Nibelunge Not.“

Fühmann, Jahrgang 1922, Sudetendeutscher, hatte seine Jugend im Krieg und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbracht. 1949 war er als Absolvent einer Antifa-Schule und gläubiger Kommunist in die DDR gekommen. Mit dem Gedicht wollte er einen Schlußstrich und zugleich den Anbruch einer neuen Zeit markieren. Doch kam er von den Nibelungen nicht los. 1971, als er am real existierenden Sozialismus schon verzweifelt war, legte er eine wuchtig-bildhafte Nacherzählung vor, die keine der blutigen Einzelheiten ausläßt oder beschönigt. 

Das war kein Zufall, noch einer flüchtigen Laune geschuldet. Auch für Fühmanns Kollegen Heiner Müller war klar, daß die Nibelungen „ja immer noch der deutscheste aller deutschen Stoffe sind und auch immer noch eine deutsche Wirklichkeit. Nach wie vor werden die Nibelungen gespielt in Deutschland.“ In seiner surealen Szenenfolge „Germania Tod in Berlin“ versetzte er unter dem Titel in „Hommage à Stalin I“ Hagen, Gunter, Gernot und Volker, den Spielmann, in den Kessel von Stalingrad, wo sie sich gegenseitig des Defätismus beschuldigen und einander umbringen. Laut Regieanweisung kriechen die Leichenteile aufeinander zu und formieren sich unter Getöse „zu einem Monster aus Schrott und Menschenmaterial. Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild.“

Dieses Bild, „Hommage à Stalin II“, führt in die DDR. „Der Krieg ist nicht zu Ende. Das fängt erst an“, flucht ein betrunkener Stalingrad-Veteran. Soll heißen: Die eingemauerte DDR verkörpert keine Hoffnung auf eine neue Zeit, sondern einen neuen Kessel oder Etzel-Saal, wo die Insassen sich und andere zerstören. Nur äußerlich ist das Nibelungen-Schicksal hier an sein Ende gekommen. Unter dem Antifaschismus-Mythos west und wirkt es weiter als von Marx formuliertes und von Stalin vollstrecktes historisches Gesetz.

Münkler schreibt, daß Kanzler Kohl an den Wirtschaftswunder-Mythos tief geglaubt habe. Dieser Glaube habe ihm die Kraft und Zuversicht verliehen, um 1989/90 alle Bedenken und Risiken beiseite zu schieben, um durch das kurzzeitig geöffnete Fenster der Möglichkeiten zu schlüpfen und die staatliche Einheit Deutschlands herbeizuführen. Ist der Nibelungen-Mythos wenigstens jetzt politisch außer Kraft gesetzt worden?

Daran kann man unmöglich glauben, wenn man Joachim Fernaus Buch „Disteln für Hagen“ (1966) gelesen und mit der Gegenwart in Beziehung gesetzt hat. Der Untertitel lautet: „Bestandsaufnahme der deutschen Seele“. Fernau warnte sie, daß „daz maere“ noch längst nicht zu Ende und die blitzblanke bundesdeutsche „Seele aus dem Supermarkt“ eine grandiose Illusion sei. „Disteln für Hagen“ ist eine originelle Nacherzählung der Geschichte, ironisch bis sarkastisch im Ton und durchdrungen vom nachträglichen Wissen des Philologen, Historikers, Psychologen, Soziologen und Zeitanalytikers. 

Zwei Figuren sind für Fernau zentral: Zum einen Kriemhild, Siegfrieds Witwe. Sie läßt ihr und Siegfrieds Kind im Stich und später ihre Brüder töten, um den ermordeten Gatten zu rächen. Für Fernau bedeutet das eine mittelalterliche „Marseillaise“, die eine Zeiten- und Mentalitätswende einleitet, welche die Deutschen bis heute prägt. Kriemhild verkörpert „das Primat des Gefühls über die Bindungen des Blutes, den Vorrang der individuellen Liebe vor allen Instinkten“. Das Risiko ist hoch: „Die ‘große Liebe’ ist das unentrinnbare Schicksal, noch in einem zweiten Ich zu leben und in ihm tödlich verwundbar zu sein.“ Wer so konditioniert ist, fällt zwangsläufig der politischen Romantik anheim, die alle natürliche Vorsicht und nüchterne Überlegung außer Kraft setzt – selbst auf die Gefahr der Selbstvernichtung.

Das intellektuelle Gegenstück ist Hagen: „Hagen ist die Idee. Er ist das Prinzip selbst. Er lebt in der reinen, der tödlich leeren Idee.“ Er gibt ein Gefühl von Stärke, Sicherheit und Sinn und ist ein typischer Deutscher: „Keiner kann der Idee so treu sein wie der Deutsche. Wo die Idee fehlt, schafft er sie. Wo das nicht möglich ist, ist er nicht treu.“

Auflösung nationaler Loyalitäten

Im wiedervereinigen Deutschland wird die Öffentlichkeit zwar von keiner „großen Liebe“ , aber vom Gefühl der „großen Schuld“ als dem „zweiten Ich“ dominiert. Es verbindet sich mit dem idealistischen Imperativ, das von der „Töterdynastie“ verantwortete Böse durch etwas absolut Gutes zu kompensieren. Auf allen Ebenen wird daher an der Dekonstruktion und Auflösung generativer Bande und nationaler Loyalitäten gearbeitet und fiebert man den von außen eindringenden Beglückungen entgegen. Die Nibelungentreue zur großen Idee, so verrückt sie auch sein mag, ist stärker als das elementare Eigeninteresse.

Merkels Politik der Grenzaufhebung hat also einen langen geistig-moralischen Vorlauf. Der Merkur, die „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, hat ihn unter dem Herausgeber Karl Heinz Bohrer gelegentlich reflektiert. Seit Bohrers Ausscheiden 2011 atmet der Merkur den Zeitgeist ungefiltert. 2013 schrieb hier die Juristin Ute Sacksofsky in einer Rechtskolumne: „Gehen wir davon aus, daß es um die Weitergabe deutschen Erbgutes nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht mehr gehen kann: Was wäre eigentlich so schlimm daran, wenn die Deutschen aussterben sollten (was ohnedies noch ein paar Jahrhunderte dauern dürfte)? Das Territorium, auf dem sich derzeit Deutschland befindet, könnte der Natur zurückgegeben oder (das ist wahrscheinlicher) von anderen Menschen besiedelt werden.“ Während der Leser noch grübelt, woher ihm dieser Tonfall vertraut ist, kommt es noch besser: „Wenn es diese deutsche Kultur nicht schafft, das Leben der kommenden Generationen mitzuprägen, dann muß sie wohl kaum unter Artenschutz gestellt werden.“ 

Joachim Fernau hatte recht: Die Nibelungen-Mär geht weiter. Die forsche Dame übrigens, die Kriemhilds Gefühls-primat mit der eiskalten Konsequenz eines antifaschistisch gewendeten Hagen vereint, ist immerhin Universitätsprofessorin für Öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vizepräsidentin des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen. 

Der Staatsmensch namens Homo bundesrepublicanus bezeugt es: Das Nibelungenlied ist mehr als nur Literatur. Es ist der ein Stoff, aus dem weiter deutsche Wirklichkeit gemacht wird.