© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Die Sünde als Bestie
Die Versuchung fernhalten: Papst Franziskus hat eine Debatte über eine Korrektur des Vaterunser-Gebets ausgelöst
Karlheinz Weißmann

Es ist erstaunlich, in welchem Maß Theologisches immer noch die Gemüter bewegt. So die Äußerung des Papstes in einem Interview, daß ihm die deutsche Übersetzung der sechsten Bitte des Vaterunser nicht gefalle. Das „und führe uns nicht in Versuchung“ gebe zu dem Mißverständnis Anlaß, daß Gott die Versuchung wolle. Franziskus schlägt dagegen die Formulierung vor: „Laß mich nicht in Versuchung geraten“, denn der Versucher sei der Satan, nicht Gott.

Was die Übersetzung aus dem Griechischen angeht, sind sich die Spezialisten einig: Die ist vollkommen in Ordnung. Eine Neufassung, folgt man deren Votum, werde nicht nur den Wortlaut, sondern auch den Sinn der Bitte verändern. Dazu kommt der Einwand jener, die fürchten, daß man schon wieder an eine Tradition rühre, die bis ins Mittelalter zurückreicht.

Aber es gibt nicht nur formale, sondern auch schwerwiegende inhaltliche Bedenken. Von katholischer wie von evangelischer Seite wurde in der Diskussion, die der Vorschlag des Papstes ausgelöst hat, die Auffassung verteidigt, daß Gott selbst derjenige sei, der die Versuchung ermögliche und den Menschen prüfe, auch um den Preis des Scheiterns.

Das Böse läßt sich intellektuell nicht erfassen

Diese Sicht der Dinge hat die Bibel auf ihrer Seite. Nahe liegt der Hinweis auf die Erzählung von der Versuchung Jesu in der Wüste, wohin ihn Gottes Geist selbst getrieben hatte, aber selbstverständlich kann man auch die Leiden des gerechten Hiob nennen oder die Geschichte vom Brudermord Kains. Zu den eindrucksvollsten Szenen der Genesis gehört die, in der Gott sich an Kain wendet, um ihn vom Brudermord abzuhalten, aber ihm nicht in den Arm fällt. Er beläßt es bei einer Warnung: „Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür.“ (1. Mose 4.7)

Die Sünde als eine Bestie, der der Mensch Einlaß gewährt, obwohl er weiß oder doch ahnt, was sie ihm und seinem Nächsten antun wird, ist ein mächtiges Bild. Daß Gott Kain trotz der Schrecklichkeit seiner Absicht und der Wahrscheinlichkeit seiner Willensschwäche nicht heraushilft aus der Versuchung, ist irritierend. Aber diese Aussage steht nicht allein und gehört in den Zusammenhang dessen, was Luther die notwendige Rede vom „deus absconditus“, dem verborgenen, abgewandten, fernen Gott, genannt hat. Der große Vorgänger des gegenwärtigen Papstes, Benedikt XVI., sprach vom „Mysterium des Bösen“. Was er damit zum Ausdruck bringen wollte, war, daß jeder unserer Versuche, den Ursprung des Bösen intellektuell zu fassen, scheitern muß. Denn das Bemühen um Auflösung dieses Geheimnisses führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit fehl, heute: auf den vulgärprotestantischen oder den vulgärkatholischen Irrweg.

Der Vulgärprotestantismus hält das Böse für ein rein innerweltliches Phänomen. Die Versuchung erscheint bestenfalls als psychologisches und mithin therapierbares Problem, denn Gott ist „der liebe Gott“. Der Vulgärkatholizismus dagegen möchte eine reinliche Scheidung zwischen den Bereichen Gottes und Satans. Hier das Gute, da das Böse; hier das Licht, da die Finsternis; hier der Erlöser, da der Verderber. Ein sanfter Dualismus, der nicht klärt, warum der Allmächtige seinem Gegenspieler so viel Macht einräumt und die Versuchung gestattet. Dieser Gefahr erliegt offenbar Papst Franziskus.

In der schönen alten Kirche meines Ortes werden die Pfeiler der Vierung von Löwen getragen. Sie stammen aus dem 12. Jahrhundert und sind stark verwittert. Aber eine Figur ist noch gut erkennbar. Sie zeigt einen kleinen, angstvoll zusammengekrümmten Menschen im aufgerissenen Maul des Tiers. Das Motiv war einmal verbreitet und stand für die Macht der Sünde über den Menschen. In glaubensstärkeren Zeiten hat man den Christen diese Wahrheit zugemutet und der Gemeinde vor Augen gestellt: daß uns zuletzt nichts bleibt, als Gott zu bitten, wie Christus gelehrt hat, wenigstens, daß er die Versuchung von uns fernhalte, der wir sonst erliegen müssen.