© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Im dunklen Zeitgeist
Die erste deutsche Netflix-Serie lockt mit neuartiger Genremischung, kränkelt aber an Erziehungsnarrativen
Gil barkei

Lange Kamerafahrten über den schattigen Wald, dichtes Geäst wie in einem Grimmschen Märchen und immer wieder Regen, Regen, Regen. Die erste deutsche Netflix-Serie „Dark“ hält, was ihr Name verspricht. Doch nicht nur die aufwendig kreierte Atmosphäre ist dunkel. Die Handlung führt in menschliche Abgründe und bedient das etwas abgedroschene Bild des trostlos Düsteren hinter der Fassade des Normalen. 

Der idyllische Schein der Provinz trügt

Die Serie spielt im Jahr 2019 in der fiktiven Kleinstadt Winden, in der ein Jugendlicher vermißt wird. Im Mittelpunkt stehen vier Familien, die durch Intrigen und Affären miteinander verknüpft sind. Gleich zu Beginn erhängt sich ein Mann. Sein seitdem von Alpträumen geplagter Sohn, die Hauptfigur Jonas (Louis Hofmann), nimmt den Zuschauer mit in den Schulalltag und in die mysteriösen Höhlen der Umgebung. Als ein weiterer Junge verschwindet, scheint sich die Vergangenheit zu wiederholen, und die Botschaft wird klar: Der idyllische Schein der Provinz trügt. 

Der Polizist und Vater des zweiten Vermißten, Ulrich Nielsen (Oliver Masucci), sieht Parallelen zum Verschwinden seines kleinen Bruders 1986 – nicht zufällig das Jahr des Reaktorunfalls in Tschernobyl. Denn die Spur führt zum örtlichen Atomkraftwerk, das immer wieder als Hauptausgangspunkt aller Geheimnisse in Szene gesetzt wird. Damals wie 33 Jahre später sterben massenhaft Vögel und Schafe rund um das Gelände. Die Geschäftsleitung scheint etwas zu verbergen.

Neben Anleihen aus dem Schwarz-Weiß-Klassiker „Es geschah am helllichten Tag“ sind besonders Ähnlichkeiten zum Serienerfolg „Stranger Things“ unübersehbar: Das kleinstädtische Jeder-kennt-Jeden wird kontrastiert mit dem Unheimlichen und Unerklärlichen. Dort ist es der Geheimdienst, hier die „Atom-Mafia“, die als Bedrohung gezeichnet werden. Während es bei der erst kürzlich in die zweite Staffel gegangenen US-Serie um das Pendeln zwischen mehreren Dimensionen geht, schickt „Dark“ seine Figuren auf Zeitreise. 

Der Handlungsfaden spinnt sich auf diese Weise schicksalhaft um die Jahre 1986 und 2019. Die Macher der Produktionsfirma Wiedemann & Berg („Das Leben der Anderen“) bedienen damit geschickt die Erinnerungen der Zielgruppe an den auslaufenden Kalten Krieg und die eigene Kindheit. Die zehn Folgen punkten mit einer für hiesige Verhältnisse aufwendigen Produktion, von der Jung-Alt-Doppelbesetzung der Rollen bis zur Ausstattung, die einen mit authentischer Kleidung, zeitgenössischen Elektronikgeräten und dazu passender Nena-Musik geradewegs zurück in die Achtziger führt.

Mit „Dark“ schaffen der Schweizer Regisseur Baran bo Odar und die Drehbuchautorin Jantje Friese eine neuartige Mischung aus Krimi, Mystery, Jugenddrama und Thriller, die in der deutschen Fernsehlandschaft nicht zu finden und durchaus spannend ist. Dialogphrasen wie „Ich bin im Hungerstreik: Solange ein Kind alle zehn Sekunden an Hunger stirbt, werde ich mich ganz bestimmt nicht vollfressen“ lassen jedoch allzu plump den bundesrepublikanischen Zeitgeist durchschimmern. 

Und auch stereotype Aussagen wie über Banker, die „auf ihren Haufen Geld sitzen“ und „die Leute schikanieren“, erinnern an Erziehungsnarrative so manchen sonntäglichen Tatorts. Die stärkere Fokussierung auf die deutschen Nutzer verfolgt allerdings weniger eine nationale als vielmehr eine globale Marktstrategie. Netflix kommt mit europäischen Serien wie „Marseille“ (aus Frankreich), „The Crown“ (aus England) und nun „Dark“ einer Vorgabe zuvor, welche die Anbieter im kommenden Jahr ereilen dürfte. Geht es nach dem EU-Ministerrat, müssen die Angebote von Streamingdiensten ab 2018 zu mindestens 30 Prozent aus europäischen Filmen und Serien bestehen. 

Bislang gibt es eine derartige Regelung nur für Fernsehsender, die einen Anteil von mindestens 20 Prozent einheimischer Inhalte vorsieht. Aus wirtschaftlicher Sicht müssen Handlung und Figuren trotzdem auch auf anderen Märkten funktionieren, die Streaming-Kunden nicht nur in den europäischen Nachbarländern ansprechen.

Netflix-Produzentin Kelly Luegenbiehl freut sich daher, daß „Dark“ ihrer Meinung nach trotz des urgermanischen Motivs Wald und der spezifischen Thematik Atomausstieg gar „nicht typisch deutsch“ sei. Ob es eine zweite Staffel für die rund 190 Länder umfassende Netflix-Gemeinschaft geben wird, entscheidet nun der Erfolg beim Zuschauer.

„Dark“. 10 Folgen à 45 Minuten, seit dem 1. Dezember auf dem Streamingdienst Netflix