© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Der Balkan kommt nicht zur Ruhe
UN-Kriegsverbrecherurteile: Ein Selbstmord, Wut, Freudentränen sowie Dissonanzen zwischen den Völkern
Hans-Jürgen Georgi

Er sei „kein Kriegsverbrecher“. Mit  „Verachtung“ weise er das Urteil zurück, sagte der gerade zu 20 Jahren verurteilte Angeklagte Slobodan Praljak, trank aus einer kleinen Flasche Gift und starb kurz darauf im Krankenhaus. Mit einer Erschütterung endete damit nicht nur das Leben eines Mannes, sondern auch das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. 

Praljak war einer von sechs Angeklagten, deren Haftstrafen von 10 bis 25 Jahren vergangene Woche bestätigt wurden. Auch wenn immer wieder betont wird, daß vor dem UN-Gericht Personen und ihre Verbrechen bestraft werden, hat alles seine politische, nationale Komponente. Bei diesem Verfahren wurde auch dem Staat Kroatien und seiner Führung eine Mitschuld an den blutigen Verbrechen in Bosnien-Herzegowina gegeben. 

Kroaten und Serben feiern ihre Helden

Ganz im Gegensatz dazu Serbien, dem die staatliche „Unschuld“  bescheinigt wurde, so zumindest aus Sicht der Serben.  Doch stellen gerade sie die Hauptzahl der verurteilten Kriegsverbrecher. An vorderster Front steht General Ratko Mladic. Sein Fall endete als vorletzter eine Woche zuvor. Anfang des Jahres 1995 berichteten serbische Zeitungen begeistert, daß der englische Independent den Befehlshaber der bosnischen Serben, Ratko Mladic, zum „Mann des Jahres“ vorgeschlagen habe. Er habe die Nato und den Westen „erniedrigt“ und sei einer der wenigen, auf den sich die internationale Gemeinschaft bei Gesprächen und Planungen verlassen könne, schrieb das linksliberale Blatt. 

Ein halbes Jahr später erhob das UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien Anklage gegen Mladic. Ausschlaggebend dafür waren die Angriffe der Serben auf muslimische Schutzzonen und das daraus resultierende Massaker von Srebrenica. Dabei wurden 7.000 bis 8.000 bosnische Muslime ermordet, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte. Nun, nach 22 Jahren, wurde das Urteil über den ehemaligen serbischen General gesprochen: lebenslänglich. 

Die Liste der Taten, die ihm vorgeworfen wurden, ist lang und umfaßt elf  Punkte. Der schwerwiegendste Anklagepunkt ist das Massaker von Srebrenica, das als Völkermord gewertet wird. Hinzu kommen Morde, Vertreibungen, Deportationen, der Beschuß von Sarajevo und die Geiselnahme von UN-Soldaten. 

Der Vorsitzende des UN-Tribunals, Serge Brammertz, machte in einem Interview darauf aufmerksam, daß Ratko Mladic und den anderen 160 Angeklagte nicht die Teilnahme an einem Krieg vorgeworfen werde, sondern daß sie gegen die Regeln des Krieges verstoßen hätten.  

In Serbien, das als Land und Nation nicht unter Anklage stand, wurde das Urteil über Mladic unterschiedlich aufgenommen. Nationalistische Parteien betrachten den Schuldspruch als Urteil gegen das Volk und feiern Mladic zum Teil als „Held“. Die Demokratische Partei des ehemaligen serbischen Präsidenten Boris Tadic sieht das Urteil hingegen als gerechtfertigt an und schätzt es als „Vorbedingung zur Aussöhnung“ ein. Der Präsident Serbiens, Aleksandar Vucic, bezeichnete den 22. November als „einen Tag weder der Freude noch der Trauer“. 

Ebenso gespalten wurde das Urteil in Bosnien und Herzegowina aufgenommen. Während die bosniakisch-muslimische Seite die Verurteilung vorbehaltlos und unter Tränen der Mütter in Den Haag begrüßte, bezeichnete der Präsident des serbischen Teils, der Republika Srpska, Mladic als Helden. Er beklagte, daß das Haager Tribunal serbischen Opfern gegenüber ungerecht sei und erst die Geschichte über Mladic urteilen werde. 

Um diese Reaktionen einigermaßen einordnen zu können, sei darauf verwiesen, daß es in den jugoslawischen Kriegen der neunziger Jahre den verschiedenen Ethnien um ihren jeweiligen Bestand ging. Serben wollten in einem Staat leben, waren aber über die Republiken Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina verstreut. Ihre Ethnie zog sich über die Grenzen dieser Teilrepubliken hinweg, die durch die Unabhängigkeit von Kroatien und Bosnien und Herzegowina zu Staatsgrenzen wurden. 

Zagreb will gegen das Urteil vorgehen

Zwei Prinzipien überlagerten sich, das territoriale und das ethnische. Da die Serben das Militär beherrschten, setzten sie ihre Forderung mit massiver Gewalt durch, woraus auch die hohe Zahl der serbischen Angeklagten in den Kriegsverbrecherprozessen zu erklären ist. Neben den Staaten Kroatien und Serbien, die ethnisch immer homogener wurden, ist Bosnien und Herzegowina immer noch ein Staat in dem die drei Nationen Serben, Kroaten und Bosniaken gleichberechtigt konstitutive Völker sind. Anstatt sich einander anzunähern, entfernen sie sich in letzter Zeit immer mehr. 

Das drückt sich auch in den Reaktionen auf das Mladic-Urteil aus. Die Muslime, die im Krieg am meisten zu leiden hatten, werfen den bosnischen Serben vor, daß ihre weitgehend eigenständige Republika Srpska eine „Schöpfung des Genozids“ sei. Da die Muslime in Bosnien und Herzegowina inzwischen zahlenmäßig in der Mehrheit sind, werden sie auch von den Kroaten mißtrauisch beäugt.

Trotz der Aufrufe von verschiedenen Seiten wird das Urteil gegen den Kriegsverbrecher Ratko Mladic und auch gegen die sechs bosnischen Kroaten wenig bis nichts zur Aussöhnung der Völker beitragen. Vielleicht verschärft sich  die Situation sogar, denn das Verhältnis zwischen Kroaten und Bosniaken innerhalb und außerhalb der Republik Bosnien und Herzegowina ist angespannt. Die Kroaten stehen dort als Nation unter Druck. Nun sehen sie sich noch als alleinigen Aggressor abgestempelt. 

Vor diesem Hintergrund kritisierte Kroatiens Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic, Angaben des Kroatischen Rundfunks (HRT) zufolge, das Haager Urteil. Kroatien, so die Konservative, habe am Bosnien-Krieg nicht im Rahmen einer sogenannten „gemeinschaftlichen kriminellen Unternehmung“ teilgenommen, sondern im Einklang mit dem Völkerrecht, jede Hilfe gewährt, um Bosnien und Herzegowina zu verteidigen und dessen territoriale Integrität und Selbstbehauptung zu erhalten. Kurz zuvor hatte Kroatiens Regierungschef Andrej Plenkovic angekündigt, auf internationaler Ebene rechtliche und politische Schritte einzuleiten, um gegen die politischen Implikationen des Haager Urteils vorzugehen.

Diese Haltung rief den Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, auf den Plan. Das ständige Schieben der Verantwortung auf Serben, sei „geschmacklos“, zitiert das Onlineportal Serbien-Nachrichten den bosnischen Serben. Grabar-Kitarovic solle sich endlich mit dem Schicksal der serbischen Opfer befassen.