© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

„Im nationalen Fahrwasser schwimmen gelernt“
Die Entzauberung des Revolutionsmythos: Zum 200. Geburtstag Heinrich von Sybels
Dirk Glaser

Höher hinauf konnte es für einen Historiker kaum gehen: Lehrstuhl an der Berliner Universität, Sitz im Gelehrtenolymp der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Direktion der preußischen Staatsarchive. In diesem Fall, bei Heinrich von Sybel, überhaupt von einem Aufstieg zu sprechen wie es bei seinem nur zwei Tage älteren, kargen Verhältnissen entstammenden Kollegen Theodor Mommsen (JF 48/17) passend wäre, ginge biographisch allerdings fehl. Denn anders als der Holsteiner kam der am 2. Dezember 1817 in Düsseldorf als Sohn eines wohlhabenden, 1831 mit dem erblichen Adel geehrten Juristen geborene Rheinländer mit einem goldenen Löffel zur Welt. 

„Ein Kind des Glückes“ sei er gewesen, rief ihm Erich Marcks 1895 nach, „das seine Gaben ausleben konnte in reichem Sonnenschein, zu schönem Ebenmaß, zu einer vollen Persönlichkeit, die sich und ihrem Volke gehörte.“ Welche Laufbahn solcherart vom Schicksal Begünstigte auch wählen mochten – Staat, Militär, Kirche, Universität –, am Ende stand fast immer eine „Spitzenposition“ in der Führungsschicht Preußens.

Bei Heinrich von Sybel, der sich als Berliner Student wie selbstverständlich der Protektion Leopold von Rankes, des Urvaters der modernen Geschichtswissenschaft erfreuen durfte, ging es jedoch trotz exzellenter Startbedingungen, der Promotion mit 21, der Bonner Habilitation mit 24 Jahren, etwas mühevoll voran auf dem steilen, aber kurvenreichen Weg zu den Berliner Gipfeln, die er erst 1875 mit Bismarcks Hilfe erklomm. 

Davor bekleidete er eine Professur in Marburg (1845 bis 1856), das der 1848 politisch elektrisierte Liberale, der „im nationalen Fahrwasser schwimmen gelernt“ hatte (Dietrich Schäfer), während der in Kurhessen extrem finsteren  „Reaktionsära“ als Verbannungsort empfand. Der Wechsel nach München, wo er 1859 mit der heute noch erscheinenden Historischen Zeitschrift das Zentralorgan der kleindeutschen, die Reichseinigung durch Preußen, unter Ausschluß Österreichs, anstrebenden historiographischen Schule gründete. Dieses nicht allein an Fachgenossen, sondern an ein größeres Publikum adressierte Periodikum wollte die Geschichte anstelle der Philosophie, die wiederum Ende des 18. Jahrhunderts die Religion abgelöst hatte, zum Ferment der allgemeinen und damit vorzüglich der politischen Bildung machen.    

Unter Bismarck ins nationalliberale Lager gewechselt

Wieder waren es politische Pressionen, die von Sybel 1861 zum Wechsel  nach Bonn nötigten. Bayerische „Ultramontane“ intrigierten gegen den preußischen Protestanten, der ihnen schon unangenehm aufgefallen war, als er 1844 mit der bei Ranke erlernten quellenkritischen Methode die Legende vom Heiligen Rock zu Trier – „und die der zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke“ – als frommes katholisches Märchen entlarvt hatte. In den vierzehn Bonner Amtsjahren agierte der in der ersten Reihe politischer Professoren für Preußens „deutschen Beruf“ fechtende Gelehrte dann wesentlich freier. 

Als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses zunächst den neuen, mit „Blut und Eisen“ drohenden Ministerpräsidenten von linksliberal-freisinniger Warte bekämpfend, wandelte sich der unter dem Eindruck der beiden ersten „Einigungskriege“ ins nationalliberale Lager gewechselte Historiker zum publizistisch-parlamentarischen Vasallen Bismarcks. Eine Loyalität, die kräftige Spuren in Sybels monumentalem Alterswerk zur Geschichte der Reichsgründung hinterließ, das zu einer „einzigen Verherrlichung Bismarcks“ (Hans Schleier) geriet und das den preußischen König Wilhelm I. mitsamt seiner Militärs fast zu Statisten der Geschehnisse von 1870/71 degradierte.

Wenn auch gerade dieses Opus ihren Verfasser ins trübe Licht des Auftrags- und Tendenzschreibers getaucht hat, zeigt es zugleich noch einmal die Stärken eines zu Lebzeiten gewiß Überschätzten, „dessen Ruhm keinen langen Atem hatte“ (Hellmut Seier). Aber ihn deswegen getrost der Vergessenheit anheimzugeben, wäre ungerecht.

Die Stärken, die den Zeithistoriker von Sybel am meisten auszeichnen, sind Aktennähe gepaart mit Aktualität. „Er war den Vorgängen immer dicht auf den Fersen“ (Seier). Das macht auch den Hauptvorzug seines eigentlichen Lebenswerks aus, der fünfbändigen „Geschichte der Revolutionszeit“ von 1789 bis 1800, die 1853 zu erscheinen begann und die er 1879 abschloß. Deren nationalpädagogische Absichten verhehlte er nicht. Es galt, wie beim Trierer Rock-Schwindel, eine Legende zu zerstören, diesmal den frühliberalen Mythos von Frankreichs beispielhafter bürgerlicher Revolution. 

Überlegenheit der Evolution über die Revolution

Da von Sybel aber keinen historisch drapierten Journalismus bieten wollte, fuhr er in die Pariser Archive und las die Akten, auf denen der Staub von 1795 lag. So fundiert hier dokumentarische Authentizität seine Revolutionskritik.Diese fiel sogar unparteilicher aus als die die Ursachen des französischen Zusammenbruchs von 1870 in den Weichenstellungen von 1789 suchende „Krankengeschichte“ Hippolyte Taines („Les origines de la France contemporaine“, 1875–1893). Mit der analytischen Schärfe von Alexis de Tocquevilles „L’Ancien Régime et la Révolution“ (1856) konnte sie sich durchaus messen.

Was der an Edmund Burke geschulte Historiker im Spiegel von 1789 den Zeitgenossen der gescheiterten deutschen Revolution von 1848, die er für politische Analphabeten hielt, beweisen wollte, war die Überlegenheit der Evolution über die Revolution. Der auf den Nationalstaat zulaufende reformerische deutsche Weg der „liberal-conservativen Mitte“, so lautete die Botschaft, sei die realistischere Alternative zu den in radikaldemokratischen Abstürzen und Greueln endenden universalistischen Utopien des „französischen Gleichheitsfanatismus“. 

Darum achte gute Politik auf so viel Erhaltung des Bestehenden wie möglich und so viel Entwicklung wie nötig, resümierte der historische Staatsdenker von Sybel. Nur so reiße die Kette der Überlieferung nicht, die das Fundament der Sittlichkeit sei, also jene geheimnisvolle Substanz, von der nach Ernst- Wolfgang Böckenförde die Verfassung eines Gemeinwesens lebe, ohne sie erzeugen zu können. Versuche der Mensch durch einen revolutionären Schnitt aus der Vergangenheit auszusteigen, seien Desorientierung und Demoralisierung die Folge, die „Lebenskraft des Staates“ sinke, und am Ende dieses Zersetzungsprozesses stehe „der geistige Tod“ jedes einzelnen Individuums.