© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Nicht auf dem aktuellen Stand
Eine deutsch-russische Historikerkommission widmet sich Ursachen und Verlauf des Ersten Weltkriegs
Werner Lehfeldt

Der Band 7 der Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen befaßt sich mit Deutschland und Rußland während des Ersten Weltkriegs „im europäischen Kontext“. Die Beiträge dieses durchgängig zweisprachigen (Deutsch, Russisch)  Sammelbandes stammen – mit zwei Ausnahmen – von deutschen und russischen Historikern. Im Mittelpunkt stehen das Deutsche Reich – dessen Außenpolitik am Vorabend des Krieges, die Kriegswirtschaft und die Parteien zwischen 1914 und 1918 – und Rußland, aber auch Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn sowie das Osmanische Reich finden Berücksichtigung. 

Ein Beitrag von Jean Mondot zeigt auf, wie deutsche Sozialdemokraten und französische Sozialisten die Katastrophe nahen sahen und nicht untätig blieben, indem sie intensiv zusammenarbeiteten, um eine deutsch-französische außenpolitische Option zu entwickeln. In den auf Rußland bezogenen Artikeln wird etwa dargelegt, wie dort dem Krieg anfänglich ein wirtschaftlich befreiender Charakter zugeschrieben wurde, welche Hoffnung aber bald verflog, weil sich die staatlichen Strukturen als hilflos erwiesen, wenn es um die Suche nach wirtschaftlichen Stimuli ging.

Wie wichtig es ist, bei der Untersuchung und Beschreibung historischer Vorgänge genau hinzuschauen, verdeutlicht ein Beitrag, in dem gezeigt wird, daß es gegenüber dem politischen Zerfall der k.u.k. Monarchie wirtschaftlich ganz anders aussah. 1928/29 waren die Nachfolgestaaten wirtschaftlich noch immer eng miteinander verflochten und war die französische Großmachtpolitik in Südosteuropa gescheitert.

Wesentliche Fakten der Julikrise 1914 ausgeblendet

Zwei Autoren untersuchen Vorgeschichte und Verlauf der Beteiligung des Osmanischen Reiches am Ersten Weltkrieg. Die Entscheidung zugunsten der Mittelmächte wurde getroffen, weil Deutschland als das beste Gegengewicht zu Rußland, dem gefährlichsten Rivalen der Hohen Pforte, angesehen wurde, aber auch zu Großbritannien und Frankreich, die sich bereits osmanische Besitzungen einverleibt hatten und nach noch mehr Gebietsgewinn strebten.

In drei Beiträgen geht es wieder einmal um die unendliche Geschichte der Frage nach den Ursachen des Kriegsausbruchs im Sommer 1914, jeweils mit Ausrichtung auf Deutschland, Rußland und Großbritannien. Diese Frage wird gewiß so lange keine allgemein akzeptierte Antwort finden, wie neue, bisher unbekannte oder unberücksichtigt gebliebene Tatsachen in die Betrachtung einbezogen oder, andererseits, durchaus bekannte Umstände durch Nichtberücksichtigung in ihrer Bedeutung herabgemindert, oft gar verharmlost werden. Für letzteres Verfahren bieten die drei Artikel Anschauungsmaterial und stützen somit Schopenhauers Ansicht, wonach die Geschichte zwar um so interessanter sei, je spezieller sie ist, aber auch um so unzuverlässiger, zwar ein Wissen sei, jedoch keine Wissenschaft.

Im einzelnen: Andreas Wirsching vertritt die Ansicht, in der Julikrise sei das Militär gebannt gewesen vom „Gespenst der Zweifrontenausein­andersetzung“, und so sei durch die Kriegserklärung an Frankreich „die Einkreisung Deutschlands zur sich selbst erfüllenden Prophezeigung geworden“. Die Entente, vor allem das französisch-russische Bündnis waren jedoch keineswegs ein „Gespenst“. Der Autor läßt außer acht, daß der französische Staatspräsident Poincaré im Juli während seines Staatsbesuchs in Sankt Petersburg dem Zaren die uneingeschränkte politische und militärische Unterstützung Frankreichs für den Fall eines Krieges mit Österreich-Ungarn und so auch mit Deutschland zugesagt hat, ohne den geringsten mäßigenden Einfluß auszuüben. Unbeachtet bleibt auch, daß der Zar bereits am 25. Juli seine Unterschrift unter das Gesetz über den Kriegsvorbereitungszustand und damit die sogenannte Teilmobilmachung in Gang setzte. Als er dann in der Nacht des 29. Juli die Generalmobilmachung anordnete, stand die Kriegsbeteiligung Frankreichs hundertprozentig fest. Das Gespenstersehen Wirschings erweist sich somit als haltlos, ja absurd.

Manfred Hildermeier argumentiert gegen die spektakulären Forschungen des US-Historikers Sean McMeekin (The Russian Origins of the First World War, Cambridge 2013), wonach die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs die russische Führung treffe (JF 29/14). Vielmehr habe die Regierung um die Begrenztheit von Rußlands militärischer Kraft gewußt und deshalb „grundsätzlich zurückhaltend“ argumentiert, sei im Juli 1914 ernsthaft bemüht gewesen, die Krise „im Zaum zu halten“. Deshalb auch habe sie die allgemeine Mobilmachung erst in Gang gesetzt, als sie die Hoffnung aufgegeben habe, Deutschland werde seinen österreichischen Verbündeten bremsen. Die immense Bedeutung der ohne Datumsangabe – 25. Juli – nur en passant erwähnten „Vor-Mobilmachung“ bleibt gänzlich unberücksichtigt, ebenso die unumstößliche Tatsache, daß es im Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland ersteres gewesen ist, das mit der Generalmobilmachung begonnen hat – am 29. Juli, als es auf deutscher Seite noch keinerlei Mobilisierungsvorbereitungen gab. Sean McMeekins Nachweis, daß die russische Führung 1914 den Krieg anstrebte, wird durch den vorliegenden Beitrag nicht im geringsten erschüttert.

Neuere Literatur bleibt unberücksichtigt

Lothar Kettenackers Aufsatz „Großbritannien: Ursachen und Folgen des Ersten Weltkriegs“ ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, daß der Autor wichtige neuere Literatur gerade angelsächsischer Historiker unbeachtet läßt. Als Beispiel sei genannt Douglas Newtons Buch „The Darkest Days. The Truth behind Britain’s Rush to War, 1914“ (2014), in dem im Detail aufgezeigt wird, daß und wie eine kleine Gruppe von Entscheidungsträgern im Kabinett, an ihrer Spitze Außenminister Grey, vom Beginn der Julikrise an zur Durchsetzung von Großbritanniens militärischer Intervention an der Seite Frankreichs und Rußlands entschlossen war und an dieser Politik bis zum endlich erzielten „Erfolg“ unbeirrt festhielt. Lediglich unter Hinweis auf Christopher Clarks „The Sleepwalkers“ von 2012 heißt es, die „revisionistische Betrachungsweise des Ersten Weltkriegs habe in England ständig zugenommen – wie weit zuletzt in der Tat, bleibt aber unausgeführt. 

Als Gesamteindruck läßt sich festhalten, daß der Band etliche Beiträge enthält, die unser Wissen um den Ersten Weltkrieg bereichern, daß hingegen die der Ursachenforschung gewidmeten Aufsätze entschieden hinter dem Forschungsstand zurückbleiben.

Horst Möller, Aleksandr Cubarjan (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Deutschland und Rußland im europäischen Kontext. Verlag De Gruyter Oldenbourg, München 2017, broschiert, 358 Seiten, 59,95 Euro