© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Brandstifter in der Uniform der Feuerwehr
Der „Kampfbegriff Populismus“: Neoliberale Ideologen untergraben Europas Demokratien
Wolfgang Müller

Als Konsument entspreche der Mensch ganz und gar nicht jenem Fabelwesen der mathematisierten ökonomischen Theorie, das ausschließlich rational handle. Für diese nicht gerade taufrische Erkenntnis bekam Richard Thaler in diesem Jahr den Wirtschaftsnobelpreis.

Leicht läßt sich Thalers triviale Entzauberung des verhaltensökonomischen Animal-rationale-Konstrukts übertragen auf den berühmtesten Homunkulus des neudeutschen Sozialutopismus: auf den strikt seiner Vernunft gehorchenden „Diskursteilnehmer“, der sich dem „herrschaftsfreien, zwangslosen Zwang des besseren Arguments“ beugt. Solcherart von der philosophischen „Weltmacht“ (Die Zeit) Jürgen Habermas geistig ertüchtigt, wissen seminaristisch trainierte Politikberater seit zwei Generationen, wie sie ihre Klientel gegen Täuschungen durch die Wirklichkeit zu wappnen haben. 

Die jüngsten Verwerfungen in Europas politischer Landschaft, ausgelöst durch den orientalisch-afrikanischen Überbevölkerungsabfluß, von New Yorker UN, Brüsseler EU und Berlins Hypermoralismus zunächst volksverdummend als „Flüchtlingskrise“ verkauft, werden jetzt ehrlicher, der Semantik von „Umvolkung“ und „Großem Austausch“ Reverenz erweisend, als „Neubesiedlung“ etikettiert. Damit beginnt jedoch das fiese Prinzip „So isses“ das tradierte „Wünsch-dir-was“-Programm des akademischen Elfenbeinturms zu verdrängen.

Nicht gegen gefühlsgeleitete Realitätsverweigerung gefeit

So kam jetzt der Politologe Reinhard Wolf (Frankfurt am Main) zu der ihm von angelsächsischen Sozialpsychologen vermittelten Einsicht, daß auch „intelligente und gebildete Menschen keineswegs gegen gefühlsgeleitete Realitätsverweigerung gefeit sind“ (Aus Politik und Zeitgeschichte, 44–45/2017). Die US-Forschung nennt dieses Phänomen, die Vermeidung „kognitiver Dissonanz“, confirmation bias. Demnach suchen „alle Menschen“ einseitig nach Informationen, die ihr Weltbild stützen. Zugleich weichen sie Nachrichten und Argumenten aus, die sich dazu im Widerspruch befinden und zu schmerzhaften Desorientierungen und Sinndefiziten führen könnten. Solche lieb gewordene Überzeugungen erschütternden „Lernerfahrungen“ durch Kenntnisnahme von „Gegenpositionen“ schwächen das Selbstwertgefühl und zwingen gerade Menschen, die sich für besonders reflektiert und aufgeklärt halten, zum „unangenehmen Eingeständnis“, zu lange „irrige Ansichten vertreten zu haben“. 

Hinzu komme, daß ein solches „Umdenken uns leicht zu Außenseitern in unserem gemeinhin ähnlich denkenden Freundeskreis machen kann“. Wenn die „Elite“, so warnt Wolf, sich künftig nicht „offener und lernbereiter“ als die „Masse“ der Bevölkerung verhalte, werde die Polarisierung in den westlichen Gesellschaften zunehmen, ihre Konsens stiftende Diskussionskultur unterminieren und schließlich „die liberale Demokratie“ sprengen. 

Mit der „umfassenden Lernbereitschaft“ der „meinungsprägenden Intelligenz“, die für Wolf der Schlüssel ist, um dem „Ideologie-Ghetto“ und drohender Betonierung unversöhnlicher „Lager“ zu entgehen, scheint es bei ihm selbst indes nicht weit her zu sein. Denn in den „emotional befeuerten Gegenpositionen der Populisten“ und ihres „leichtgläubigen“ Anhangs artikuliert sich für ihn lediglich reichlich „Verschwörungstheorie“, die von intellektueller Überforderung durch die Komplexität politischer Fragen infolge Globalisierung zeuge. 

„Bürgerinnen und Bürger mit stärkerem Einfluß auf gesellschaftliche Willensbildungsprozesse“ – Wolf denkt hier gewiß an charismatische Aufklärer wie Claus Kleber (ZDF) und Anja Reschke (NDR) – müßten der weniger mit „überdurchschnittlicher Bildung“ begnadeten „Masse“ daher einfach nur glaubwürdig beibringen, daß man „ungeachtet zunehmender Einkommensdisparitäten“ mit der liberalen Demokratie und ihren phantastischen Werten – wie der „Freiheit“, unter den Brücken schlafen zu können, die derzeit 6.000 Obdachlose allein in Berlin enthemmt genießen – weiterhin „gemeinsam auf der Siegerseite der Geschichte“ stehe. Die häßlichen Fehlentwicklungen, unter denen der wohlversorgte Professor jedoch allein das obszöne Einkommensgefälle zu nennen weiß, würden sich dann, auch mit Hilfe von „Qualitätszeitungen“ nach „sachlicher Debatte“ beheben lassen, womit dem Populismus der Wind aus den Segeln genommen werde.

Totalversagen von Europas Mitte-Links-Parteien 

Während Wolf, repräsentativ für die politologische Zunft trotz rhetorischer Zugeständnisse rein gar nichts begreifend, in der „Echokammer“ seines Lehrstuhls für „Internationale Beziehungen und Weltordnungsfragen“ selig durchschläft, verdient die Lageanalyse, die sein Wiener Kollege Oliver Marchart zum Themenheft „Populismus“ der Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung beisteuert (Aus Politik und Zeitgeschichte, gleiches Heft), schon eher ihren Namen. Linke wie rechte „Populisten“ sind für Marchart, den die „Essex-Schule“ des Neomarxisten Ernesto Laclau (1935–2014) prägte, alles andere als wutbürgerliche Irrationalisten oder sektiererische Verschwörungsgläubige. 

Im Gegenteil, sie markieren, nach einer Definition des Soziologen Wolfgang Streeck, „politische Konfliktlinien in den Krisengesellschaften des Finanzkapitalismus“. Darum sollen mit dem „Kampfbegriff Populismus“ alle Forderungen delegitimiert werden, die die existenziellen Bedürfnisse breiter Bevölkerungsschichten gegen eine Politik mobilisieren könnten, die an diesen Interessen vorbeigeht. Es seien mitnichten, wie der ahnungslose Wolf suggeriert, ein paar leicht zu korrigierende „Fehlentwicklungen“ der Globalisierung, die die aktuelle Misere verursachen. Vielmehr atomisieren die „Verwüstungen des neoliberalen Umbaus der europäischen Wohlfahrtsstaaten“ die soziale Basis liberaler Demokratie durch „Prekarisierung aller Arbeits- und Lebensbereiche“. Und forciert durch „das Totalversagen der europäischen Mitte-Links-Parteien“ (von den angeblich „Christlich-Konservativen“ bis zu den Rot-Grünen), wie es sich schauerlich am „beispiellosen Niedergang der europäischen Sozialdemokratie“ offenbare, wolle das asoziale beutegierige Kapital und nicht ein als entweder „rassistisch“ oder „kommunistisch“ denunzierter, tatsächlich die Grundfesten demokratischer Gemeinwesen, Sicherheit und Ordnung  verteidigender Populismus die „Systemfrage“ stellen. 

Der vom Establishment inszenierte „Antipopulismus“, etwa die „En marche“-Bewegung des einstigen marktradikalen Investmentbankers Emmanuel Macron, biete nur eine „irreführende Problemdiagnose“ und betreibe demagogischen „Etikettenschwindel“. Hier kämen „Brandstifter“, die sich nun um die massiv schwindende Folgebereitschaft für ihre ruinöse, vorgeblich „alternativlose“ Globalisierungspolitik sorgen, „in der Uniform der Feuerwehr“ daher, um „das Volk“ im Stil des 19. Jahrhunderts als unwissende, leicht verführbare Masse zu stigmatisieren und es wieder unter dem Dach der „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel) paternalistisch einzufangen. Was, wie Marchart als Sympathisant des linken Populismus hoffnungsfroh bilanziert, immer weniger gelinge. 

Darum lehnen viele Bürger die schon von einer willigen Vollstreckerin neoliberaler Katastrophenpolitik und Merkel-Vorläuferin wie Margaret Thatcher gepflegte pauschale Kritik am widerständigen Populismus („There is no alternative“) heute höhnisch als „leer“ ab. Immer mehr Europäern, wie der Labour-Erfolg bei den letzten Unterhauswahlen genauso beweise wie der Zuspruch für die radikale Linke in Portugal oder, von Marchart freilich beklagt, die 85 Prozent Arbeiterstimmen für den FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer, käme zu klarem Bewußtsein, daß sie von neoliberalen Rezepten elitärer „Antipopulisten“ à la Macron – „ungehinderte Herrschaft der Märkte, Ausverkauf öffentlicher Güter, Abbau sozialer Sicherungssysteme, Ausweitung des Niedriglohnsektors zugunsten globaler ‘Wettbewerbsfähigkeit’“ – wahrlich nichts Gutes zu erwarten hätten. Ob sich damit „der Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus“ abzeichnet, wie Wolfgang Streeck glaubt, und endlich die „Demokratisierung der Demokratie“ beginnt, wie Marchart es sich wünscht, ist dagegen ungewiß.