© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

„Übriggeblieben aus einer reinen Zeit“
Und doch Repräsentant seines Jahrhunderts: Zu Theodor Mommsens 200. Geburtstag
Dirk Glaser

Seine in den 1850ern veröffentlichte „Römische Geschichte“, für die Theodor Mommsen  1902 als erster Deutscher den Literaturnobelpreis erhielt, rezipierten schon Zeitgenossen als althistorisch kostümiertes Konvolut von Leitartikeln zur politischen Lage im Vorfeld der Einigungskriege und der Reichsgründung. „Cato“, so beschrieb 1931 der Kulturhistoriker Egon Friedell den bildungsbürgerliche Mommsen-Lektüren lange dominierenden Eindruck, sei in diesem Gegenwart in Geschichte tunkenden Opus „ein Konservativer von der Kreuzzeitungs-Partei, Cicero ein schriftstellernder Advokat und Parlamentarier à la Thiers, Crassus ein Börsenkönig à la Louis Philippe, die Gracchen sind Sozialistenführer, die Patrizier Junker, die Graeculi Pariser Zigeuner, die Gallier Indianer.“

Doch ungeachtet solcher penetrant aktualisierenden „Tendenz“, die Roms Geschichte zum Instrument politischer Pädagogik formte, verschwand dieses Werk des, wie die Stockholmer Juroren rühmten, „größten lebenden Meisters der historischen Darstellung“, nicht mit der Epoche, der es seine Entstehung verdankt und mit dem Publikum, auf das es einwirken wollte. Vielmehr, so urteilte der Mommsen-Biograph Stefan Rebenich 2002, „ist es auch heute noch von ungebrochener Aktualität“. Weil, wie schon die bedeutendsten Mommsen-Interpreten vor Rebenich, Alfred Heuss und Albert Wucher, deren Arbeiten gleichzeitig 1956 erschienen sind, zeigen konnten, der von Hegels Geschichtsphilosophie geprägte Jurist mit guten Gründen glauben durfte, die Vergangenheit enthalte ewig Gültiges und nicht nur Einmaliges. Lege der Historiker mit Hilfe der streng philologischen Methode und positivistischer Faktentreue die anthropologischen Konstanten des Geschichtsverlaufs frei, könne er die „historische Wahrheit“ objektivierbar ermitteln und sich der Geschichte aktualisierend als Lehrmeisterin der Gegenwart bedienen, ohne den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit fürchten zu müssen.

Der 1848er mutierte zum Parteigänger Bismarcks

Die Weltanschauung und das Menschenbild, das Mommsens Gelehrtenleben bestimmte, wurde dem am 30. November 1817 in Garding, auf der Halbinsel Eiderstedt, geborenen Pastorensohn auf der Universität Kiel vermittelt, wo der liberale Geist der Vormärz-Ära herrschte. Wie sein Altersgenosse Karl Marx, huldigte Mommsen früh der recht schlicht anmutenden „großen Erzählung“ des aufgeklärten Bürgertums, wonach die Vernunft über die Natur, die Ideale über die Interessen obsiegen, die Freiheit sich in einer vollendeten Menschengemeinschaft verwirklichen werde. 

Im Unterschied zu Marx korrigierte der 1848 bei der Schleswig-Holsteinischen Zeitung als politischer Journalist engagierte Althistoriker seinen Fortschrittsoptimismus jedoch unter dem Eindruck der gescheiterten bürgerlichen Revolution. Das Edle, so lautete fortan das neue Credo, werde sich zwar stets gegenüber dem Gemeinen behaupten, aber nie endgültig, sondern stets nur temporär. So ersetzte Mommsen, der seine Geschichtstheorie kaum in Ansätzen expliziert hat, stillschweigend sein lineares Fortschritts- durch ein Kreislaufmodell der Geschichte. 

Die Entwicklung der Menschheit lief bei ihm also nicht mehr, wie weiterhin bei Marx, gesetzmäßig auf das Zukunftsparadies der Freien, Gleichen und Brüderlichen zu. Und noch ein wesentlicher Unterschied trennte die im Glauben an humanistische Ideale ursprünglich vereinten Kinder der Goethezeit. Für Mommsen sollte sich die Freiheit im Staat, für Marx hingegen in einer staatenlosen „Assoziation“ realisieren. 

Der 1857 auf eine Forschungsprofessur an der Preußischen Akademie der Wissenschaften nach Berlin berufene Linksliberale, der dort und auf einem Lehrstuhl für Römische Geschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität gigantomanische Editionsprojekte zur Erschließung der „Totalität“ der lateinischen Antike voranzutreiben begann, setzte daher seine „realpolitischen“ Hoffnungen nicht auf das klassenkämpferische Proletariat, sondern auf die Macht Preußens, die allein den freiheitlich-demokratischen, national geeinten deutschen Verfassungsstaat erzwingen werde. 

Darum mutierte der alte 1848er, der 1860 mithalf, die liberale Fortschrittspartei aus der Taufe zu heben, zum Parteigänger Bismarcks und zum kompromißlosen Streiter für die kleindeutsche Reichseinigung von oben. Der Nationalstaat als Rechts- und Sozialstaat galt dem leidenschaftlichen Animal politicum nun als realexistierender Humanismus. Was harte Opposition nicht ausschloß, wenn der politische Alltag sich von den hohen Erwartungen des im Reichstag präsenten Professors entfernte. Als sich in den 1880ern indes abzeichnete, daß der Machtstaat der Massengesellschaft sich nicht in den Kulturstaat des Goethe-Verehrers verwandeln würde, fühlte sich Mommsen wie „übriggeblieben aus einer reinen Zeit“ und klagte in der berühmten „Testamentsklausel“ (1899), trotz großer äußerer Erfolge „nicht das Rechte erreicht zu haben“ in seinem Leben.    

Für den Fürsten der Altertumswissenschaft und den politischen Präzeptor einer von ihm als „rückgratlos“ geschmähten, materialistisch versumpfenden Nation endete die Legitimität von Herrschaft, wenn sie das Gemeinwohl verriet. Im Kaiserreich sah er diesen Punkt mit Bismarcks konservativer Wende von 1879 erreicht, die die Vorrangstellung der ostelbischen „Junkerkaste“ zu Lasten der demokratischen Mehrheit der Bürger, Bauern und Arbeiter dauerhaft zu zementieren schien. Eine Führungsschicht wie die der agrarischen Ostelbier, die lohndrückerisch polnische Saisonkräfte importiere, dadurch die Landflucht heimischer Arbeiter auslöse, den deutschen Osten destabilisiere und die Machtstellung des Reiches untergrabe, so hat das der an Mommsen geschulte Max Weber dann schneidig formuliert, die also die Nation eigennütziger Klientelpolitik opfere, tauge aber nicht, um das Gemeinwesen in guter Ordnung zu halten. Darum müsse sie zum Wohl des Ganzen weichen.

Natürliche Erschöpfung der sittlichen Kräfte von Eliten

So wie die von Cato und Cicero vertretene Oligarchie der römischen Republik dem „populistischen“ Demokratismus der Militärmonarchie Cäsars zu weichen hatte. Zu den „ewigen Gültigkeiten“, die Geschichte lehrt, zählten für Mommsen vor allem die unvermeidliche natürliche Erschöpfung der sittlichen Kräfte von Eliten und der dadurch verursachte Staatsverfall. Historisch gesetzmäßig herrschen daher immer wieder „unfähige und verbrecherische Regierung(en)“, „die das Wohl und die Ehre des Landes mit Füßen treten, die aber dann zugleich infolge der „Notstände der Vielen“ und der „sittliche Empörung der Tüchtigen legitime Revolutionen heraufbeschwören“.

Wegen solcher nicht nur die Lage Deutschlands und Europas zu Beginn des 21. Jahrhunderts blitzartig erhellender Einsichten dürfte das Verfallsdatum von Mommsens „Römischer Geschichte“ noch sehr lange nicht abgelaufen sein.