© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Die Uhr ist abgelaufen
Jamaika-Aus: Die Merkeldämmerung ist keine Staatskrise, denn sie ist nicht der Staat
Michael Paulwitz

War da was? Das „Jamaika“-Sondierungsgewürge mit großem Knall geplatzt, die Bundeskanzlerin und CSU-Chef Horst Seehofer als Gescheiterte düpiert – und Angela Merkel stellt sich unter dem Applaus der Unionsgranden und des öffentlich-rechtlichen Mediengefolges hin und verkündet, auf jeden Fall weitermachen zu wollen, mögliche Neuwahlen hin oder her. 

Merkels Uhr ist abgelaufen, sie will es nur nicht wahrhaben. Die vernagelte Realitätsverweigerung ist die eigentliche Groteske an der Farce der sich wochenlang hinziehenden „Sondierungsgespräche“ für eine schwarz-gelb-grüne Verzweiflungskoalition. Es ist der hilflose Trotz derer, die sich an jeden Strohhalm klammern, der eine Amtsverlängerung der „Willkommenskanzlerin“ verspricht, weil ihnen alles andere als undenkbar erscheint. Die bröckelnden Beharrungskräfte, allen voran die Grünen und ihre medialen Lautsprecher, stellen FDP-Chef Christian Lindner als Spielverderber hin, weil er das Offensichtliche ausgesprochen hat: Wenn Parteien, die im Wahlkampf Gegensätzliches versprochen haben, sich auf eine Koalition einigen, kann der Kompromiß nur ein fauler und verlogener sein. Für die soeben wiederauferstandene FDP wäre es Selbstmord mit Ansage gewesen, sich ein zweites Mal als Machtbeschaffer einer Kanzlerin aussaugen zu lassen, die jenseits des eigenen Machterhalts kein Programm und keine Überzeugung kennt. Daß Lindner schließlich in letzter Minute die Reißleine gezogen hat, ist somit nicht Verantwortungslosigkeit, sondern ein rationaler Akt.

Von einer Regierungs- oder gar „Staatskrise“ kann nicht die Rede sein, nur weil die Wunschkoalition der Bundeskanzlerin nicht zustande gekommen ist. Dem liegt die verquere Vorstellung zugrunde, daß nur ein vorab festgelegter und auf vorgefertigte Positionen festgelegter Kreis von Personen und Parteien überhaupt an die Macht gelassen werden kann. Statt dessen bringt die Ratlosigkeit nach „Jamaika“ die Krise eines etablierten Parteiensystems an den Tag, das sich weigert, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Der Bundespräsident will mit allen Parteien über einen Ausweg aus der festgefahrenen Regierungsbildung sprechen, aber nicht mit der AfD, obwohl diese, als immerhin drittstärkste Kraft im Bundestag, durchaus ihre Bereitschaft zur Tolerierung einer schwarz-gelben Minderheitsregierung signalisiert hat. 

Die kommenden Wochen versprechen ein langwieriges Gezerre. Bundespräsident, Unionspolitiker und Medien werden die SPD und ihren von der Wahlniederlage angeschlagenen Vorsitzenden Martin Schulz unter Druck setzen, sich doch noch einmal als Regierungsmehrheitsbeschaffer für Angela Merkel herzugeben. Andere werden versuchen, die FDP zu massieren, sich nach irgendwelchen formalen Zugeständnissen doch noch auf das „Jamaika“-Experiment einzulassen.

Solche Gedankenspiele verkennen, daß die Ära der unausgesprochenen Allparteienübereinkünfte in entscheidenden politischen Fragen mit der letzten Bundestagswahl abgelaufen ist. Mit einigem Recht nimmt die AfD für sich in Anspruch, „Jamaika“ verhindert zu haben. Ihre bloße Existenz hat diese Wirkung: Jedes Zutagetreten der inneren Widersprüche und Verrenkungen der Verlegenheitskoalition hätte die unbequeme Konkurrenz weiter gestärkt.

Düpiert steht durch Lindners kalkulierten Coup nun vor allem die CSU da. Ihr hätten Beobachter sogar noch eher zugetraut, entweder die „Sondierung“ oder später die Koalition platzen zu lassen, weil sie am meisten zu verlieren hatte. Mit den Grünen im Bund zu koalieren, samt Fortsetzung der Masseneinwanderung per Asyl und Familiennachzug, hätte den Absturz von der absoluten Mehrheit auf ein Merkel-Ergebnis und solide zweistellige Gewinne für die AfD bei der bayerischen Landtagswahl im September nächsten Jahres perfekt gemacht. CSU-Chef Horst Seehofer ist damit endgültig zur „lahmen Ente“ geworden, zum Parteivorsitzenden auf Abruf. Nicht nur, daß er sich von Christian Lindner überrumpeln ließ, schon in den Koalitionsverhandlungen hat er mit seiner demonstrativen Kompromißbereitschaft gegenüber den Grünen und ihren Forderungen nach weiterer unbegrenzter Einwanderung eine traurige Figur gemacht.

Seehofer und Merkel stehen beide für einen schwarz-grünen Kurs der Unionsparteien, die sich von der kleinsten Partei die Agenda diktieren lassen und konservativen und freiheitlichen Positionen bis auf wertlose symbolische Dekorationen keinen Raum mehr geben. Dieses Politikmodell allerdings ist mit dem Abbruch der „Jamaika“-Verhandlungen krachend gescheitert. Die logische Konsequenz wäre der Rücktritt dieser beiden Führungsfiguren. Oder, wenn sie nicht freiwillig gehen wollen, ihre Ablösung durch die jeweiligen Parteien. Denn auch Neuwahlen hätten, mit denselben Leuten an der Spitze, wieder dasselbe Ergebnis – mag auch die SPD sich der verwegenen Hoffnung hingeben, es könnte vielleicht doch mal für Rot-Rot-Grün reichen. Daß CDU und CSU die Kanzlerin für ihre Ankündigung, selbst bei Neuwahlen wieder als Spitzenkandidatin antreten zu wollen, auch noch frenetisch bejubeln, statt sie zu stürzen, zeigt das Ausmaß ihrer Entkernung. Selbst zeitweise als „Kritiker“ oder „Herausforderer“ gehandelte Führungsmitglieder wie Jens Spahn klammern sich an die zur verpaßten Chance verklärte „Jamaika“-Illusion und klatschen in der ersten Reihe mit. 

Die gescheiterte Regierungsbildung nach Merkels Wünschen ist keine „Staatskrise“, sondern ein weiteres Symptom der Merkeldämmerung. Selbstbezogene Realitätsverweigerung kann diese Erkenntnis hinauszögern, aber nicht aufhalten.