© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Ein fiktionaler Gerichtshof
Kino I: „Das Kongo-Tribunal“, eine Dokumentation von Milo Rau
Sebastian Hennig

Der Schweizer Regisseur Milo Rau hat während des letzten Jahrzehnts mit Aktionen und Theateraufführungen die erstickende Verknotung von Kunst und Moral gelöst und sie in intellektueller Redlichkeit neu geschlungen. Ein Blick darauf legt zwar zunächst die Vermutung nahe, auch hier sei wie üblich im subventionierten Theaterbetrieb systematisch das politische Grauen bewirtschaftet worden, um damit die gewünschte tagespolitische Relevanz dieser Kunst nachzuweisen. Mit solchen postmodernen Baukastenspielen ist Rau jedoch nicht zu vergleichen. In einem Gespräch erklärte er kürzlich: „Wir haben das Zeitalter der Skandalisierung verlassen, in dem wir Künstler sehr lange festsaßen. (…) Skandalisierung nutzen wir allenfalls noch als Gewürz, um etwas Schärfe reinzubringen.“ 

Die Aufnahmen zum aktuellen Kinofilm „Das Kongo-Tribunal“ wurden bereits vor dem Schauspiel zum gleichen Thema, „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“(JF 5/16), gedreht. Über zwei Jahrzehnte ereignete sich im Kongo der „größte und blutigste Wirtschaftskrieg der Menschheitsgeschichte“. Milo Rau initiert einen Gerichtshof, der zur einen Hälfte aus Kongolesen und zur anderen aus Journalisten, Uno- und NGO-Angehörigen und Juristen aus der ganzen Welt besteht. Verhandelt werden an jeweils drei Tagen in einem Jesuitenkolleg in Bukavu, der Hauptstadt der Provinz Süd-Kivu, drei exemplarische Ereignisse und darauf dann in den Sophiensälen in Berlin die Verwicklung der internationalen Organisationen und Wirtschaftsunternehmen in den Krieg. Das Ganze zielt weder auf Siegerjustiz noch einen erwartbaren moralischen Triumph. Was wir sehen und hören, bleibt letztlich so verwirrend wie das Leben selbst. Bezeichnend ist es, daß es dem Regisseur gelungen ist, von den Vertretern der internationalen Konzerne, der lokalen Regierung und Anwälten des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bis hinab zu den handwerklich arbeitenden Schürfern, den anonymisierten bewaffneten Rebellen und den Kleinbauern alle Beteiligten nicht nur vor die Kamera, sondern auch vor dieses Tribunal zu bekommen.

Konflikt forderte mehr als sechs Millionen Opfer

Üblicherweise eignet Dokumentarfilmen eine Dramaturgie eines Vorwurfs. Sie kritisieren eine Gesellschaftsordnung. Zu hören ist dann die suggestive Stimme des Regisseurs aus dem Off mit luziden Erklärungsvorschlägen für ein unsägliches Geschehen. Anmerkungen eines Autors, der seine Erfahrungen in Archiven macht und allenfalls aus Gesprächen mit den Protagonisten bezieht.

Milo Rau hält sich einerseits als Deuter zurück, übernimmt aber zugleich die Autorschaft und damit die Verantwortung für die von ihm akzentuierte Wirklichkeit. Außer dem, was sieben Kameras vom Tribunal festhalten, sind eine ganze Reihe von Aufnahmen im Land entstanden, auf den Dörfern, in provisorischen Behörden, in den Minen, in der freien Landschaft, im Stützpunkt der UN-Soldaten und einem Lager der Milizen.

Der Film beginnt mit den Aufnahmen des Massakers von Mutarule vom Juni 2014. Ein Zufall für das Kamerateam. Rau stellt die verstörende Bedeutungslosigkeit der Bilder vom Tod von 30 Frauen und Kindern fest: „Die gleichsam alttestamentarische Realität der aus 1.000 solcher Massaker und Vertreibungen bestehenden ostkongolesischen Katastrophe, die bis heute über sechs Millionen Opfer gefordert hat, erklären sie nicht.“ Im Film offenbaren sich in beispielhafter Weise alle Facetten des Geschehens. Die Resonanz des Zuschauerraums neutralisiert die Rhetorik der Konzernvertreter ebenso wie die leidenschaftliche Anklage der Opfer. Dieses Gericht, das nur eine Fiktion ist, arbeitet besser als es je eines mit einer offiziellen Vollmacht könnte. 

Das Schlußwort des Impresario ist wohlgesetzt. Wenn er von dem märchenhaften Land redet, dem eine Wahrheit geschuldet werde, dann erscheint der politische Eskapismus des Milo Rau tatsächlich als einzig angemessener Umgang mit der Wirklichkeit. Denn die besteht eben nicht nur aus Opfern, Tod und Vernichtung, sondern aus ebenso vielzähliger Gleichgültigkeit. 

 Filmstart am 16. November