© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

„Ich war in der Hölle“
Der Panzergrenadier Nikolaus Giebels durchlitt in Stalingrad härteste Kämpfe – er war sicher, den Untergang der 6. Armee nicht zu überleben
Moritz Schwarz

Herr Giebels, „der Tod war unser Alltag“ – beschreibt das Stalingrad in einem Satz?

Nikolaus Giebels: Ich würde sagen, „die Hölle von Stalingrad“, das trifft es auf den Punkt! Wer den Kessel erlebt hat, vergißt das nie. Ich habe keinen einzigen meiner Kameraden, die in Stalingrad geblieben sind, je wiedergesehen. 

Warum haben Sie überlebt?

Giebels: Ich hatte, Gott sei Dank, das wahrlich große Glück, zur Amputation meiner erfrorenen Hände und Füße in allerletzter Minute ausgeflogen worden zu sein. Ich kam in einem Feldlazarett unter. Doch als mein rechter Fuß abgenommen werden sollte, mußten wir wegen eines russischen Angriffs verlegt werden. Später stellte sich heraus, daß die Ärzte meinen Fuß retten konnten. Ich war Anfang Februar 1942 zur Wehrmacht eingezogen worden. Nach einer Ausbildung in Ostpreußen wurde ich der 26. Panzergrenadierabteilung, die in Rußland kämpfte, zugeteilt.

Wie erlebten Sie den Vormarsch?

Giebels: Von Beginn an war es unbeschreiblich schrecklich, denn ich kam gleich ins Gefecht. Schlagartig lernte ich, was Krieg bedeutet. Wochenlang immer neue Einsätze, Todesangst, Verstümmelte, Gefallene. Der Vormarsch auf Stalingrad war nur unter heftigen Kämpfen möglich. Es hieß, die Stadt „muß“ genommen werden! Wir hofften, das würde den Krieg vielleicht zu unseren Gunsten entscheiden. Und auch, daß der Krieg dann aus sei. Doch als wir Anfang November die Vorstadt erreichten, war der Anblick niederschmetternd. Überall Zerstörung und sich zäh wehrende Verteidiger. Unbeschreiblich das Vorrücken zwischen den Häusern unter dem Feuer der Russen. Und wir jungen Kerle mußten diesen Alptraum mitmachen.

Gab es zu Beginn nicht noch die Überzeugung, den Gegner auch hier zu schlagen?

Giebels: Ich kämpfte nicht aus Überzeugung, sondern weil ich mußte. Ich kämpfte auch nicht für Deutschland, sondern um zu überleben. Dann kam endlich Verstärkung. Unter den neuen war einer wie ich aus dem deutschsprachigen Belgien. Es war, nicht zu glauben, mein Bruder Martin. Unglaubliche Freude, als wir uns in die Arme fielen! Aber auch Schrecken, ihn nun an dieser Front zu wissen. Zumal er erst 19 war – 19, das muß man sich mal vorstellen!

Haben Sie zusammen gekämpft? 

Giebels: Ich erinnere mich genau, in der Nacht zum 11. November – sein Namenstag, Martinstag, und auch sein Geburtstag – waren wir bis spät zusammen. Tage später wurde in unserer Schwadron eine Kampfgruppe für einen Angriff zusammengestellt. Ich war dabei, mein Bruder als Neuer nicht. Es begannen erneut tagelange Kämpfe und Vorrücken, zäh, Haus um Haus. Am dritten Tag lag ich in einem Trümmerhaufen als eine Handgranate neben mir detonierte und mir einen heißen Splitter in den Arm trieb. Doch es gab kein Zurück, es hieß: verbinden und weiterkämpfen – Tag um Tag um Tag. Es war grausam. Inzwischen blieb unsere Attacke stecken. Statt die Russen zu vertreiben, brachen diese durch. Statt Stalingrad zu erobern, schloß sich der Ring um uns. Wir mußten zurück. Immer weiter. Bis wir am Ufer der Wolga eingeklemmt wurden. Meine Gruppe war mit 26 Mann losgezogen. Jetzt lagen wir noch zu sechst am Wolgaufer und warteten ohne ordentliche Verpflegung auf den Rückzug. In der Nacht erfroren mir Hände und Füße. Mein großes Glück. Von den fünf anderen habe ich nie mehr etwas gehört.

Hat Ihr Bruder Martin auch überlebt? 

Giebels: Als meine Kampfgruppe losging, verabschiedeten wir uns. Es war ein endgültiger Abschied. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich spüre noch heute seinen letzten Händedruck. Wir wissen nicht, wie und wo er gefallen ist. Sein Name ist auf dem Mahnmal der Stalingradopfer in Rossoschka vermerkt.

Hätte er nicht auch in Gefangenschaft überlebt haben können?

Giebels: Als Anfang Februar die Nachricht von der Kapitulation des Kessels und dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad kam, wußte ich, daß er verloren war. Meine Mutter hatte fünf Brüder zur Welt gebracht. Drei sind nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt. Mein Bruder Martin blieb ja im Kessel von Stalingrad, mein Bruder Hubert fiel August 1943 in Mittelrußland und mein Bruder Michel am 27. August 1944 in Italien.

War der Krieg mit Ihrer Verwundung in Stalingrad für Sie zu Ende?

Giebels: Nein. Ich war längere Zeit im Lazarett von Bernburg an der Saale. Im September 1943 wurde ich wieder der 6. Schwadron des 6. Panzergrenadierregiments zugeteilt. Nach einem kurzen Einsatz in Italien ging es wieder an die Ostfront, wo ich erneut härteste Kämpfe und Rückzüge ohne Ende erlebte. Nicht vergessen kann ich den 1. November 1943. Bei einem Angriff wurde unsere Einheit durch russische Granatwerfer und Stalinorgeln überrascht. Es gab 24 Verwundete und vier Tote. Januar 1944 erlitt ich eine Trommelfellverletzung durch die Detonation einer Bombe ganz in der Nähe, und im Februar traf mich ein Granatsplitter an der linken Schulter. Ich habe noch den Brief, mit dem unser Oberwachtmeister meinem Vater meine Verwundung mitteilte. Im August 1944 wurde ich bei einem Brückenkopf an der Weichsel von Granatsplittern verletzt, mehrere im Rücken, einer in der Lunge, der nicht entfernt werden konnte und sich verkapselte.

Und nach der Niederlage?

Giebels: Die deutschsprachigen Soldaten aus Belgien wurden gesammelt. Doch statt anzuerkennen, daß wir zum Wehrdienst gezwungen worden waren, erklärte uns die belgische sogenannte Weiße Armee zu Kriegsgefangenen. Nicht einmal das belgische Rote Kreuz wollte sich um uns kümmern. Zum Glück übergaben sie uns den Briten, die mich im November 1945 entließen. Wieder zu Hause zurück wollte ich eigentlich studieren, half aber meinem Vater und meinem 15jährigen Bruder auf dem landwirtschaftlichen Hof.

Und Stalingrad?

Giebels: Stalingrad, das war wirklich die Hölle. Aber der ganze Krieg war für mich die Hölle. Meinem Bruder Martin begegne ich manchmal im Traum. Den Krieg versteht nur, wer ihn erlebt hat. Ich habe immer viel gebetet, auch in Stalingrad, aber ich wußte, auch als gläubiger Katholik durfte ich kein Wunder erwarten – dennoch ist es irgendwie eingetreten: Ich habe überlebt. Mein Gott, ich habe das tatsächlich überlebt! 






Nikolaus Giebels, der ehemalige Obergefreite und mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse dekorierte Panzergrenadier wurde 1921 bei Malmedy geboren. Nach dem Krieg saß der Landwirt für die Partei Deutschsprachiger Belgier im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG).