© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

„Der Tod war unser Alltag“
Der Panzersoldat Manfred Hildebrand erreichte als einer der ersten Stalingrad – und überlebte als einer der wenigen den Kessel
Moritz Schwarz

Herr Hildebrand, wie viele Stalingrad-Veteranen gibt es noch?

Manfred Hildebrand: Bei unserem letzten Treffen des „Bundes ehemaliger Stalingradkämpfer“ in Limburg waren wir noch zu viert. 

Sie sind einer davon.

Hildebrand: 1943 gingen etwa 110.000 deutsche Soldaten in Stalingrad in Gefangenschaft. Zurückgekommen sind nur rund 6.000. Ich habe überlebt, weil ich im Januar 1943 verwundet und ausgeflogen wurde. Sonst wären Stalingrad oder Sibirien auch mein Grab geworden. 

Erinnern Sie sich, wann Sie den Namen der Stadt das erstemal gehört haben?

Hildebrand: Nein, und wir ahnten beim Vormarsch nicht, daß sie unser Schicksal sein würde. Obwohl die Stimmung indifferent war. 

Sie waren nicht voller Siegeszuversicht? 

Hildebrand: Wissen Sie, mein Vater hatte nicht viel für die Nazis übrig. Denn er war Mitglied im deutschnationalen Stahlhelm, also konservativ. Noch bis 1937 arbeitete er mit einer jüdischen Firma zusammen und hatte jüdische Bekannte, von deren drei Jahre älterem Sohn ich viel über Literatur und Musik gelernt habe. Bei den Nationalsozialisten galten die Russen ja als Untermenschen. Ich aber kannte Tschaikowski und Tolstoi, wußte, daß die Sowjets das Land industrialisiert, mit der Tupolew TB-3 eines der größten Flugzeuge der Welt gebaut oder mit ihren Eisbrechern 1928 die „Italia“-Polarexpedition des Kapitän Nobile gerettet hatten. Außerdem genügte ein Blick auf den Globus: Deutschland muß man suchen, die UdSSR spannte sich um die halbe Kugel. 

Ihnen war klar, daß der Krieg nicht zu gewinnen war? 

Hildebrand: Das nicht, aber ich teilte nicht die Ansicht, wir würden siegen müssen, weil der Russe dem Deutschen an sich unterlegen sei. Und ich war nicht der einzige meiner Kameraden, dem das klar war. So sage ich, die Stimmung war indifferent. Allerdings zunächst ging es immer nur vorwärts. Und der Alltag überdeckte alles: Tanken, Munitionieren, Marschieren, Gefechte – so geht das unaufhörlich. Man tut seine Pflicht und denkt nur daran, gut durchzukommen. 

Sie waren einer der ersten deutschen Soldaten, die die Wolga erreichten. 

Hildebrand: Als Richtschütze auf einem Panzer IV der 16. Panzerdivision. Unser Regimentskommandeur war Hyazinth Graf Strachwitz, genannt der „Panzergraf“, ein echter Draufgänger, der die letzte Etappe vom Don zur Wolga schließlich an einem einzigen Tag schaffte. So waren wir als erste dort. 

Wann merkten Sie, daß es in Stalingrad anders war als bei den Kämpfen zuvor? 

Hildebrand: Als es den Russen Mitte November 1942 gelang, uns einzukesseln. Denn bis dahin hatten im Grunde wir das Feld beherrscht. Zu Beginn der Schlacht hatten die Russen ja nur wenige Panzer und warfen ihre Bomben noch per Hand aus dem Flugzeug. Dann aber bekamen sie eine Art Spezialgewehr, das unsere Panzerung durchschlagen konnte. Einmal drang ein solches Geschoß in unsere Panzerwanne und traf eine unserer Granaten. Ich dachte schon, es wäre zu Ende – doch nur der Treibsatz der Granate zündete, nicht ihre Ladung. Ein Glück! Jeden Tag gab es Gefechte, Kameraden starben. Man mußte hilflos zusehen, wie Verwundete verendeten. Aber man wird gefühllos und konzentriert sich um so mehr aufs Überleben. 

Wann kam bei Ihnen der Moment der Verzweiflung?

Hildebrand: Ganz ehrlich: Gar nicht. Selbst als wir eingeschlossen wurden, waren wir sicher, er haut uns raus.

Sie meinen General Paulus? 

Hildebrand: Nein, „er“ war Hitler.

So war es aber nicht. 

Hildebrand: Ja, erste echte Zweifel kamen, als die Versorgung nicht mehr klappte. Im Grunde war die Luftbrücke, die uns versorgen sollte, ein Witz. Das konnte nicht klappen. Es gab immer weniger zu essen. Zwar ist in Stalingrad kein Landser an Hunger gestorben, aber Mangelernährung und Kälte hat viele anfällig für Krankheiten gemacht. Etwa 80.000 Mann starben nicht durch die Russen, sondern weil ihre geschwächten Körper Infekten nicht standgehalten haben. Ich wurde zum Glück nicht krank, aber mich erwischte Anfang Januar 1943 ein Granatsplitter. 

War Ihnen klar, daß das Ihr Leben rettete?

Hildebrand: Ich muß Ihnen sagen, daß ich das damals nicht so gesehen habe. Wir hatten noch die Hoffnung, entsetzt zu werden. Ich wollte meine Kameraden nicht verlassen, aber unser Offizier befahl mich zum Verbandsplatz. Dort wurde ich zum Ausfliegen eingeteilt. 

Sie waren nicht gottfroh, rauszukommen? 

Hildebrand: Damals war die Erziehung noch eine andere. Wenn ich heute höre, wie viele unserer Afghanistan-Soldaten zum Nervenarzt müssen oder Rekruten bei einem Marsch tot umfallen, das gab’s bei uns nicht. Wir sind durchmarschiert. 

Haben Sie von den Soldaten der Bundeswehr eine schlechte Meinung?

Hildebrand: Sie sind eben Kinder ihrer Zeit. Ich stelle das nur fest. Und ich habe erst wirklich begriffen, daß die Russen uns inzwischen überlegen waren und die Sache tatsächlich böse enden würde, als ich nach meiner Genesung an der Schlacht von Kursk, der größten Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges teilnahm. Später wurde ich in der Normandie von Briten gefangengenommen. Aber mit Stalingrad, da begann der Untergang Deutschlands. Und ich sage Ihnen, auch wenn Sie es vielleicht nicht verstehen, ich leide bis heute daran, aber wie! 

Was meinen Sie konkret?

Hildebrand: Zum Beispiel der Verlust unserer Ostgebiete – eine Tragödie. Das schmerzt noch heute jeden Tag. Und die Deutschen in der DDR wurden zwar nicht vertrieben, mußten aber 45 Jahre lang die Zeche zahlen. Und über uns hieß es, wir seien alle Faschisten und Verbrecher – so ein Quatsch. Wobei ich die Vorwürfe auch verstehen konnte, denn was wir insgesamt in Rußland angestellt haben, war nicht ohne: 25 Millionen Tote und viele zerstörte Städte. Aber Stalingrad – wissen Sie, nach dem Krieg habe ich gesagt, bei der Wahl Stalingrad oder Auschwitz hätte ich Auschwitz gewählt. Da waren natürlich immer alle baff. Natürlich ist der Vergleich makaber. Aber Stalingrad überlebten drei Prozent, Auschwitz deutlich mehr. Der Tod war unser Alltag. Und daß ausgerechnet ich überlebt habe – das  ist ein eigentlich kaum zu begreifendes Glück. 






Manfred Hildebrand, der ehemalige Gefreite und Offiziersanwärter wurde 1923 in Langenau bei Freiberg in Sachsen geboren. Er begann vor dem Krieg ein Studium des Ingenieurwesens und führte danach einen Maschinenhandel und ein Industrieabbauunternehmen in Mannheim. 

Foto: Geschlagene deutsche Landser nach der Schlacht um Stalingrad: „Wir ahnten nicht, daß diese Stadt unser Schicksal sein sollte ... Mit Stalingrad begann der Untergang Deutschlands“

 

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