© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Literatur auf Wanderschaft
Das Tauschen von Büchern entwickelt sich durch das Internet weiter
Paul Leonhard

Literatur auf Wanderschaft? Ein blauer Stempel auf der ersten Innenseite legt diesen Gedanken nahe. Er zeigt ein blaues Buch mit Beinchen und Ärmchen, welches tapfer und frohen Mutes davonmarschiert. „Freed any good books lately?“, steht über dem Stempel. Ich habe es aus dem obersten Regal einer Telefonzelle gezogen. Genauer gesagt, einer ehemaligen. Denn einen Telefonapparat gibt es nicht mehr, auch kein dickes gelbes Telefonbuch auf einem Ablagetisch, dafür aber Holzregale, in die etwa 200 dicke und dünne Bücher gezwängt sind.

Ich stehe in der Enge einer Bücherbox und staune über die Vielfalt. Weltliteratur steht hier neben Trivalem. Es gibt Romane, Erzählungen, Kinderliteratur, Reiseberichte, einige Bildbände. Neben den Logos von Rowohlt und Suhrkamp sind die des Aufbau-Verlags und des Verlags der Nation zu erkennen. Ein paar Bücher sind sogar noch älter: Büchergilde Gutenberg aus den zwanziger Jahren. Was unter Rucksackreisenden schon Anfang der 1990er üblich war, ein ausgelesenes Buch im jeweiligen Hostel gegen ein neues zu tauschen, hat sich inzwischen auch in Deutschland durchgesetzt. 

Die Anfänge dieses Buchtausches sollen auf die Künstler Clegg und Guttmann in Graz zurückgehen, die für eine Kunstaktion drei Bücherschränke im öffentlichen Raum aufstellten. Inzwischen sind überall in den Städten öffentliche Bücherboxen und -regale oder umgenutzte Telefonzellen zu entdecken. Letztere sind besonders beliebt, schützen sie doch am besten ihre papierenen Schätze. Eine rote britische Telefonzelle steht beispielsweise im Zentrum von Bonn und gleich mehrere in verschiedenen Berliner Bezirken. In Baßfeld steht ein Regal in der gläsernen Bushaltestelle vor dem Bürgerhaus, in Lübeck vor dem Café Sachau ein rot lackierter Metallschrank, an der Bushaltestelle an der Hauptstraße von Hüfingen ein Baumstamm mit Fächern. Mitunter gibt es sogar Bänke zum sofortigen Schmökern des Entdeckten, denn dazu ist es in der Kabine einfach zu eng. Helle(rauer) Zelle heißt die Bücherkabine, in der ich mich umschaue. Sie steht mitten auf dem Markt der bekannten, von Dresden eingemeindeten Gartenstadt. An der gläsernen Tür sind die Regeln erklärt, wie das mit der Bücherbox funktioniert: „… aus dem eigenen Besitz stellt man ein interessantes lesenswertes Buch hinein und entnimmt im Gegenzug ein Buch, das besonders gefällt. So oft man Zeit und Lust hat.“

Autoren und Titel verraten viel über die in Hellerau lebenden Menschen: Älteres Bildungsbürgertum vermute ich, das sich Stück für Stück von seinen zu DDR-Zeiten erworbenen Buchschätzen trennt. In Dresdner oder Berliner Szenevierteln ist das Angebot dagegen viel hipper und wechselt auch schneller. Und genau das ist gewollt.

Die Leser können sich im Internet austauschen

Ausgelesene lesenswerte Bücher können auch an einem selbst gewählten „besonderen Ort freigelassen“ werden, heißt es auf der Online-Plattform bookcrossing.com, über die man mit einem Code markierte Bücher auf ihrer „Reise“ verfolgen und bei Interesse in Kontakt mit den Findern treten kann. Dazu können auch der Kassenbereich beim Discounter, das Zugabteil oder eine Flughafenbank gehören. Auch in Hotels im Ausland findet man inzwischen Regale mit frei zugänglicher Literatur. Hier stehen deutsche Titel neben englischen, französischen, italienischen und auch kyrillischen. Meistens werden die Bücherboxen von Bürgern, einem Verein oder einem Buchhändler betreut. So soll verhindert werden, daß sie „zugemüllt“ werden oder einem Regal gar die Literatur ausgeht. In der Stahlarbeiterstadt Riesa kümmern sich seit 2009 die „Bücherfreunde“ um eine mit Bänden ausgestattete rote Telefonzelle. Woanders ist es der SPD-Ortsverein oder die Diakonie. Nicht alle dieser Mini-Bibliotheken sind rund um die Uhr geöffnet. Die britische Telefonzelle im Wartebereich des Bürgeramtes Berlin-Spandau ist nur zu dessen Öffnungszeiten zugänglich, die offene Bücherkabine im Albert-Schwarz-Bad in Heidenau nur während der Freibadsaison, und im Bücherregal des Flugplatzes Helgoland-Düne dürfen allein Flugreisende stöbern.

„Bring ein Buch, nimm ein Buch, lies ein Buch“ ist das Motto von „Bücherboxx“. Wer will, kann im Netz nachlesen, wer der erste Besitzer des aus dem Regal entnommenen Buches war, wer es alles gelesen hat und ob Leser vielleicht sogar Rezensionen hinterlassen haben. Wichtig für das System ist: „Und wenn du das Buch nicht mehr brauchst, gib es weiter oder bring es an einen Ort, an dem der nächste es finden kann.“

Garantiert nicht vollständige Listen der öffentlichen Bücherschränke gibt es im Internet, zum Beispiel auf 

 www.openbookcase.org.