© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Traditionen und Neuausrichtung deutscher Außenpolitik
Mehr als nur Helfen
Peter Michael Seidel

Stehen wir vor einer Zeitenwende, einem Paradigmenwechsel der internationalen Politik? Vor einer Rückkehr des Altbekannten? Die Anzeichen der Wiederkehr haben dieselben Schlagworte wie einst: Geopolitik, Interessen- und Einflußzonen, Annexionen, Machtpolitik revisionistischer Mächte. 

Das Auswärtige Amt unter Sigmar Gabriel hingegen gab im September 2017 unter dem Titel: „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ neue Leitlinien für die deutsche Ausßenpolitk heraus, die der Auffassung von Außenpolitik in den USA, China und Rußland diametral entgegenstehen dürften. Vor allem China ist der Motor der Veränderung, auf die Amerika bereits mit seinem „Schwenk nach Asien“ reagierte. Am Rande dieser Entwicklung und mit Blick auf das Reich der Mitte taucht ein Begriff auf: der der „strategischen Kultur“.

Auf der Suche der Chinesen nach Erklärungsmodellen für ihre Außenpolitik wird auf ihre Geschichte zurückgegriffen: Chinas „strategische Kultur“ erweise sich „als das Ergebnis konfuzianischer und realpolitischer Einflüsse“, unter Einschluß der „Grundprinzipien von Sun Tsu“. Dazu gehöre das „Reichsmodell einer wohlwollenden Führung Chinas“ und das Konzept „friedlichen Aufstiegs“, in dem Gewalt immer nur als Verteidigung diene. Auf der Grundlage dieses „diffusen Konzepts“ habe China zwar bisher keine explizite „Großstrategie“, also die „Planung des langfristigen Vorgehens eines Staates“ verfolgt, betreibe aber seit 2012 „nicht mehr zurückhaltend, sondern ‘aktivistisch’ Außenpolitik“, wie es Sicherheitspolitikforscher Michael Paul darstellt.

Der Begriff der „strategischen Kultur“ ist ein Konstrukt, basierend auf bewährten, ausgewählten Elementen nationaler Kultur, der Überwindung von Fehlentwicklungen wie der „Kulturrevolution“, die Schaffung einer solchen ein bewußter Willensprozeß.

Der Begriff ist ein Konstrukt, basierend auf bewährten, ausgewählten Elementen nationaler Kultur, der Überwindung von Fehlentwicklungen wie der „Kulturrevolution“, die Schaffung einer solchen ein bewußter Willensprozeß.

Seit einigen Jahren läuft auch in Deutschland eine Diskussion, die die Außen- und Europapolitik im Lande neu zu prägen versucht. Es spricht viel dafür, den Begriff der „strategischen Kultur“ auch auf Deutschland anzuwenden, gerade angesichts der aktuellen Diskussion um eine Führungsrolle in Europa. Denn auch hierzulande gibt es spezielle, historisch gewachsene Bedingungen, die die Aussichten auf eine solche Rolle prägen, zum Teil noch aus der altdeutschen Tradition, vor allem aber aus der Zeit von Teilung und Kaltem Krieg. Ist dies der wahre Kern der „deutschen Frage“?

Auf der einen Seite stehen die Anhänger einer europäischen Transferunion, wie der Publizist Eric Hansen, die von Deutschland als ängstlicher Supermacht reden, die zugunsten Europas „endlich erwachsen“ werden solle. Oder von der „Macht in der Mitte“ neue Auf- und Ausgaben für Europa fordern, wie der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Der Publizist Hans Kundnani stellt gleich „German Power“ als das eigentliche Problem Europas dar und  fordert deshalb ein Aufgehen in einem EU-Zentralstaat.

Auf der anderen Seite gibt es die Warner, wie den Publizisten Martin Winter, die das „Ende einer Illusion“ über die EU wollen, oder vor dem schleichenden Abbau von Souveränität und Demokratie in Deutschland warnen wie der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg oder die negativen Entscheidungen „im schwarzen Juni“ 2016 zugunsten einer Transferunion beklagen und eine „Neugründung Europas“ fordern, so wie der  Ökönom Hans-Werner Sinn.

Demgegenüber sind die Leitlinien des Auswärtigen Amtes erstaunlich zahnlos. Altlasten bestimmen diese Diskussion. Leitmotiv scheint ein unauffälliges „Wir helfen, wo wir können“ zu sein, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel bei verschiedenen Anlässen sagten. Aufschlußreich für die Entstehung dieses Selbstbildes sind die Betrachtungen Timothy Garton Ashs über „Die deutsche Frage“. Da wirkt die alte Bundesrepublik konserviert wie Pompeji unter Lavaschutt.

Ash interessierte die „intellektuelle Meinung“, also das „Meinungsklima“, „geprägt von den Ideen, Überzeugungen und der Haltung der hochschulgebildeten Westdeutschen, die nach 1945 geboren wurden“. Demnach waren es vor allem zwei Faktoren, die das Meinungsklima bestimmten, ein realpolitischer und ein gesellschaftlicher: der realpolitische bestand in der Teilung des Landes, seiner „bitteren Machtlosigkeit“, „Erpreßbarkeit“ und der Tatsache, daß der Schlüssel der Deutschlandpolitik in Moskau lag, eine aktive Wiedervereinigungspolitik somit nicht möglich war, und deshalb nicht die Freiheit, sondern angesichts seiner Gefährdung durch Krieg der Friede das „höhere Gut sei“.

Der zweite Grund hängt unmittelbar damit zusammen: Die nach dem Bau der Mauer entworfene neue Politik des „Wandels durch Annäherung“ scheiterte, sie wurde ersetzt durch die De-facto-Anerkennung der DDR, „die Entknüpfung der Ideen von deutscher nationaler Einheit und deutscher Eigenstaatlichkeit, ersetzt durch ein Minimalkonzept der menschlichen Erleichterungen, das für beide deutsche Staaten und ihre Bürger viel Positives brachte“ (Hervorhebungen T. G. Ash), im Kalten Krieg sogar den Zusammenhalt der Nation ermöglichte, aber lange die Absage an operative Deutschlandpolitik war.

Von nachhaltigem Einfluß war, daß sich aus der Frustration über dieses Scheitern nicht ein „linker Nationalismus“ entwickelte, wie Kissinger von Beginn der sozialliberalen Ostpolitik gegenüber dem Realsozialismus befürchtete und auch Ash noch vermutete, sondern „politischer Romantizismus und utopischer Idealismus“ – ein „Urbrei aus Mythen und Ideen“. Dieser war „symptomatisch“ nicht nur bei Intellektuellen, sondern auch bei vielen Politikern bis hin zur „konstanten Mißachtung der qualitativen Unterschiede zwischen den Systemen im westlichen und östlichen Europa“, und einem bei der „Friedensbewegung“ gegen Nato-Raketen „schrillen, apokalyptischen Alarmton“. Dies im Blick, erklärt sich auch der heutige Gegensatz von Staatspolitik und dem Denken in Menschenrechtskategorien, wie er nicht nur in der intellektuellen Meinung typisch wurde und sich 2015 in der Grenzöffnung zeigte.

Meinte Ash 1985 noch, die Stimmen der deutschen Intellektuellen seien „nicht die entscheidenden Stimmen der deutschen Politik“, so erwies sich dies zwar insofern als richtig, als Helmut Kohl dessen ungeachtet seine Wiedervereinigungspolitik durchzog, als es darauf ankam. Neuere Erkenntnisse über „Intellektuelle in den Volksparteien der Bundesrepublik Deutschland“ von Lars Tschirwitz zeigen jedoch, wie weit der von Ash geschilderte Entfremdungsprozeß schon vorangeschritten war, gerade bei maßgeblichen Politikern, die wie die „Parteiintellektuellen“ Peter Glotz (SPD), Heiner Geißler (CDU), Kurt Biedenkopf (CDU) und Erhard Eppler (SPD) die Wiedervereinigung ablehnten und deutsche Interessen verkannten.

Innerhalb nicht einmal eines Jahres, zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, änderte sich die strategische Lage Deutschlands grundlegend, die intellektuelle Meinung hingegen kaum. Auch dies hatte realpolitische und gesellschaftliche Gründe: realpolitische, weil Deutschland plötzlich nur noch „von Freunden umzingelt“ war; wozu brauchte man da noch eine Bundeswehr? Und gesellschaftliche, weil die frühere Teilsouveränität Westdeutschlands sich in strategischer Unbedarftheit fröhlich fortsetzen konnte: Eines Tages würde es ja eine Weltregierung und früher schon die Vereinigten Staaten von Europa geben. Die intellektuelle Meinung war damit von einer postnationalen Nische in eine andere gelangt. Ihr Kennzeichen: die Ignoranz, daß „Diplomatie oft militärische Muskeln in der Hinterhand braucht, um zu wirken“. Diese „deutsche Strategievermeidungskultur“ kann heute „nicht mehr das leisten, was die Republik jetzt eigentlich bräuchte“, schreiben die Publizisten Leon Mangasarian und Jan Techau.

Deutschland hatte nie eine strategische Kultur. Allenfalls gab es eine Wiener Reichstradition und eine altpreußische strategische Kultur, dokumentiert in den geheimen politischen Testamenten der frühen Hohenzollern bis zu Friedrich dem Großen. Und so kommt zu den andauernden Prägungen aus der Zeit von Teilung und Kaltem Krieg noch die viel ältere, spezifisch altdeutsche, aus Kleinstaaterei und Provinzialismus geborene Tradition, die geradewegs zum „verzerrten Wirklichkeitsbegriff der sozial entfremdeten Intellektuellen“ führte, wie Joachim Fest bemerkte, mit dem Ergebnis der „Zurückweisung der Wirklichkeit im Namen radikal idealisierter Vorstellungen. Ihre politische Problematik ist unverkennbar.“ Auch heute noch.

Ob Macron oder Juncker: Sie prägen die Agenda. Beide haben bereits die große Umverteilungsrunde um Geld und Macht eröffnet. Ein deutscher Alternativplan, ein „strategisches Gesamtkonzept“, ist nicht zu erwarten, und deshalb wird Berlin weiter in der Defensive verharren. Die von Macron jetzt geforderte „gemeinsame strategische Kultur“ in Europa wäre deshalb heute eine französisch dominierte strategische Kultur. Die Stichworte der Debatte lauten deshalb EU-Wirtschaftsregierung, Eurozonen-Haushalt, EU-Finanzminister, Europäischer Währungsfond, „Vergemeinschaftung“ der Bundeswehr usw. Einige gehen davon aus, daß Merkel und Macron die Ausweitung der Transferunion „bereits vereinbart“ haben (Holger Steltzner in „Brüssel ergreift die Macht“, FAS vom 17. September 2017), andere vermuten noch „erheblichen Streit“ um ihren von Frankreich geplanten umfassenden Ausbau (Stefan Kornelius in „Der unbezahlbare Freund“, Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2017). Entscheidende Grundsatzentscheidungen stehen also bevor.

Selbst die USA können einen Dollar nicht zweimal ausgeben: beispielsweise für die Alimentierung reformunwilliger Verbündeter und für die Erhaltung von Wohlstand und Stärke. Was für die USA in der Welt gilt, gilt für Deutschland in Europa. 

Selbst die USA können einen Dollar nicht zweimal ausgeben. Beispielsweise  für die Alimentierung reformunwilliger Verbündeter und für die Erhaltung von eigenem Wohlstand und eigener Stärke. Was für die USA in der Welt gilt, gilt für  Deutschland in Europa erst recht. Ob sich in Deutschland eine neue strategische Kultur heranbildet, die das Land dazu befähigen kann, in und für Gesamt­europa eine Führungsrolle zu übernehmen und durchzustehen, wird sich daran erweisen, ob es sich auf der Basis in Kaltem Krieg und Wiedervereinigung bewährter strategischer Kulturelemente in Verbindung mit erprobten traditionellen Komponenten eine modernisierte, europakompatible strategische Kultur leisten will und kann, ohne sich von anderen in der Europadebatte das Leitseil um den Hals werfen zu lassen. Dies gilt auch für das Verhältnis zu Rußland. In Deutschland kommt realistische Politik an der Konfrontation der intellektuellen Meinungsmacher nicht vorbei.

Mit ihren Standbeinen Wirtschaft und Militär sowie ihrer „Soft power“ bleiben die USA der Hegemon Europas. Die Nicht-Nuklearmacht Deutschland ist anders als Rußland für die USA kein Konkurrent in Europa, der Halbkontinent bleibt sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer. Ob sich Europa unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands in der Nato emanzipieren kann, um sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen, ist offen. Sicher ist: Die EU kann keinen Ersatz für den Nuklearschirm der USA bieten. Daß dieser Schutz bleibt, dafür gibt es trotz Trump Chancen.

Und damit kommt Deutschland als stärkste Macht um eine eigenständige Zukunft Europas ins Spiel. Wenn es sich zu einer neuen, realistischen strategischen Kultur durchringen kann, die über „Frieden bewahren“ und „Helfen, wo man kann“ hinausgeht. Zumindest gibt es dafür bewährte Ansätze, von Clausewitz, dem militärstrategischen Denker und Erzieher, über Bismarck, den internationalen Bündnispolitiker und Staatsmann als „ehrlichen Makler“, bis zu Stresemann, dem Mann des Ausgleichs mit Frankreich und überzeugten Vernunft­europäer.






Dr. Peter Michael Seidel, Jahrgang 1956, arbeitet als Public-Affairs-Berater und Publizist in Frankfurt am Main. Er war Referent für Sicherheits- und Europapolitik unter den Generalsekretären Heiner Geißler und Volker Rühe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle und Geschäftsführer der entsprechenden CDU-Bundesfachausschüsse, anschließend politischer Referent im Büro für Auswärtige Beziehungen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Weißbuch der Bundeswehr 2016 („Dokument des Unvermögens“, JF 41/16).

Foto: Deutschland im Herzen Europas: Eine geographische Aufforderung zu langfristiger Sicherheitspolitik