© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Ei oder Huhn?
Aller Anfang ist dunkel: Der Wissenschaftsautor Jürgen Kaube spürt der Entstehung der menschlichen Kultur nach
Felix Dirsch

Jürgen Kaube, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dort verantwortlich für das Feuilleton, hat neben seiner journalistischen Tätigkeit besonders als Wissenschaftspublizist von sich reden gemacht. 2014 legte er eine hochgelobte Biographie Max Webers vor, im Jahr darauf ein Buch zur Krise des Bildungssystems. 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis (JF 29/15). Nun hat er sich einem sehr weit gesteckten, hochkomplexen Arbeitsgebiet gewidmet: den Ursprüngen grundlegender Felder menschlichen Daseins.

Seiner im Rowohlt-Verlag erschienenen Abhandlung „Die Anfänge von allem“ stellt Kaube unter anderem ein Zitat von Aristoteles voran: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht.“ Den jeweiligen Ursprung zu rekonstruieren, ist ein mühsames Unterfangen. „Die wichtigsten Erfindungen haben keine Erfinder“, schreibt Kaube. „Wir kennen den Menschen nicht, der als erster aufrecht ging oder der als erster ein Wort sagte, wir kennen die Gemeinschaft nicht, die als erste einem unsichtbaren Wesen huldigte oder die als erste tanzte. Wie hieß die erste Stadt? Wer nahm als erster ein Geldstück an und machte es dadurch überhaupt erst zu Geld?“ Fragen über Fragen.

Kaube untersucht den Anfang des aufrechten Ganges ebenso wie die ersten Sprachlaute, die ersten künstlerischen Aktivitäten genauso wie religiöse Praktiken. Musik und Tanz, Kochen, Landwirtschaft, Staat, Recht, Zahlen, Erzählungen, Geld und noch einiges mehr: Überall stellt sich die Frage, was zuerst dagewesen ist. Das Früheste ist deshalb im nachhinein wichtig, weil das Nachfolgende aus spezifischen Konstellationen hervorgeht. Die folgenden Weichenstellungen sind also nicht restlos zu begreifen, wenn nicht der Beginn erforscht und richtig eingeschätzt wird. Nicht zufällig spricht man vom mitlaufenden Anfang. Theoretiker des Urknalls nennen dieses „Ereignis“ den Tag ohne gestern, was widersprüchlich ist.

Kaubes weit ausgreifende Synopse bietet einen Einblick in die Vielfältigkeit der Kontingenz menschlichen Daseins. Weil sich alle Anfänge so und so zugetragen haben, konnten sich humanes Dasein und die kulturellen Hintergründe so und so entwickeln. Um diese Faktoren wenigstens annähernd rekonstruieren zu können, bedarf es eines möglichst umfassenden Blicks auf die Ursprünge. Sie verdanken sich immer einer Kumulation verschiedener Bedingungen. Das Paradoxon des Beginns besteht darin, daß etwas vorhanden sein muß, welches eigentlich gar nicht existiert. In Wissenschaft und Publizistik spricht man gern vom Henne-Ei-Problem. Voraussetzungen können sich nicht selbst garantieren. Das berühmte Böckenförde-Theorem, zuerst im staatsrechtlichen Kontext beheimatet, wendet Kaube auf sämtliche Präsuppositionen der Kultur an.

Das Rad, das der Verfasser in der Einleitung erwähnt, ist noch relativ einfach abzuhandeln. Die ältesten gegenständlichen Hinterlassenschaften stammen aus dem 4. Jahrtausend v. Chr., wobei Kaube darauf hinweist, daß es für die Erfindung des Rades weder in der Natur noch im menschlichen Körper Anregungen gab. Frühe Darstellungen sagen lediglich einiges über jene Menschen, die sie angefertigt haben, so vielfältig die Interpretationen sein mögen.

Homo heidelbergensis erster Mensch mit Sprachbegabung

Bei der Erhellung des Phänomens Sprache sind die Hintergründe schon deutlich schwieriger zu eruieren. Die Fülle der Varianten, die das Konkrete wie das Abstrakte bezeichnen, ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Erst recht zeigen sich die Schwierigkeiten, wenn es um anatomisch-physiologische Anlagen geht, die wiederum eine Erörterung der langen Entwicklung des Homo sapiens nötig machen.

Noch heute ist der Forschungsstand im Grunde genommen nicht über den französischen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau hinausgekommen, der es als Widerspruch erachtete, Sprache aus Nichtsprache abzuleiten. Natürlich kann man darauf verweisen, daß auch auf dieser Ebene eine Evolution stattfindet. Fragen nach dem Ausgangspunkt bleiben jedoch. Berühmt ist in diesem Zusammenhang das FOXP2-Gen, das seit Jahren durch die Medien geistert. Dessen Mutation wird als maßgeblich für die Sprachfähigkeit betrachtet. Es gibt einige Hinweise, daß es der Homo heidelbergensis war, der als erster jene Fähigkeiten besessen hat, die wir als Sprachbegabung ansehen. Kaube verbleibt auch hier notgedrungen im Unverbindlichen.

Nicht anders sieht es mit der Herkunft religiöser Praktiken aus. Schon höher entwickelte Tiere läßt der Tod von Artgenossen nicht gleichgültig. Schimpansen meiden Orte, an denen ihresgleichen umgekommen sind. Ob hier ein Beleg für die Wahrnehmung des Göttlichen zu finden ist, kann letztlich wohl nie geklärt werden. Wo das erste Wesen im Übergangsfeld von Tier und Mensch auf so etwas wie ein transzendentes Alter verweist, wie stammelnd auch immer, wird wahrscheinlich für alle Zeiten spekulativ bleiben.

Im Epilog trifft der Autor eine weiterführende Differenzierung: Er unterscheidet zwischen dem, was über die Anfänge zu lernen sei und dem, was an ihnen studiert werden könne. Ersteres ist vom Forschungsstand abhängig, der über die Frühzeit naturgemäß stark im Fluß ist. Letzteres spielt auf das Gefühl für den historischen Zeitbedarf an. Im Zeitalter rascher Innovationen, die späte Neuanfänge mit sich bringen, lohnt ein Blick auf frühe. Historische Abfolgen haben sich am Beginn solcher Entwicklungen gerne verdichtet, heute lassen sich Parallelen verfolgen. Im Rahmen der Neuerungen durch die „Industrie 4.0“ kommen Umbrüche auf uns zu, die höchstens mit dem Beginn der Industrialisierung zu vergleichen sind.

Kaubes Analysen, anspruchsvoll und mit umfassendem Blick für die Phänomene, können ein Gespür wachsen lassen, wie die Herausforderungen von zeitlichen wie sachlichen Prioritäten zu bewältigen sind.

Am 16. Januar 2018 liest Jürgen Kaube aus seinem Buch „Die Anfänge von allem“ in Heidelberg im DAI – Haus der Kultur.

 www.rowohlt.de/

Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. Rowohlt, Berlin 2017, gebunden, 444 Seiten, 24,95 Euro