© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Vom Tango zu Wagner
Auf vielen Hochzeiten unterwegs: Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim wird fünfundsiebzig
Markus Brandstetter

Am 13. August 2014 geht ein Mann in die La-Cumparsita-Tango-Bar in der Calle Chile 302 in Buenos Aires, bestellt sich einen Drink, winkt ein paar Leuten zu, setzt sich dann an das rosenholzfarbene Klavier auf dem Podium neben der kleinen Tanzfläche und greift in die Tasten. Die La-Cumparsita-Bar ist ja für ihren authentischen Tango („Tango de verdade“) in ganz Buenos Aires berühmt, es ist also ganz normal, daß sich hier am Abend ein Pianist ans Klavier setzt und Tangos spielt. Aber der Pianist, der zur Freude aller Anwesenden an diesem Abend den Tangoklassiker Adios Muchachos aus dem Jahr 1927 spielt, das ist kein gewöhnlicher Klavierspieler – es ist der weltbekannte Pianist und Dirigent Daniel Barenboim. Und der kann natürlich auch Tangos spielen, denn er ist in Buenos Aires aufgewachsen, wo er am 15. November 1942 geboren wurde.

Das ist jetzt nur eine der vielen Facetten dieses wahrhaft großen Musikers und Humanisten, aber für Barenboim ist sie charakteristisch, denn sie zeigt, daß dieser Mann bei allem Weltruhm ein ganz normaler Mensch geblieben ist. Weder Herbert von Karajan noch Claudio Abbado, geschweige denn Wilhelm Furtwängler kann man sich am Klavier in einer Tango-Bar vorstellen. Leonard Bernstein oder George Solti schon eher. Und genau wie Bernstein, Solti, Wladimir Aschkenasi oder auch Christoph Eschenbach ist Barenboim eine Doppelbegabung als Pianist und Dirigent.

Barenboim entstammt einer gebildeten russisch-jüdischen Familie; beide Eltern waren gute Pianisten, sein Vater zudem sein einziger Klavierlehrer. Zuerst schien alles auf eine Karriere als Wunderkind am Klavier hinauszulaufen. Barenboim spielte bereits mit sieben Jahren vor Publikum, nahm mit elf seine erste Schallplatte auf und gab mit 13 ein Konzert in der Londoner Royal Festival Hall. Wilhelm Furtwängler lud den Zwölfjährigen ein, mit ihm und den Berliner Philharmonikern Beethovens erstes Klavierkonzert zu spielen – eine ungeheure Ehre, wenn man Furtwänglers Abneigung gegenüber Wunderkindern bedenkt. Aber die Eltern des jungen Mannes lehnten ab, weil sie ihren Sohn nicht als Wunderkind verheizen und ihm zum anderen neue Wege in seiner Laufbahn eröffnen wollten, weshalb sie ihn 1952 nach Salzburg zu einem Dirigierkurs bei Igor Markevitch mitnahmen und ihn danach zu Nadia Boulanger nach Paris schickten, wo der junge Barenboim zwei Jahre lang Harmonielehre und Orchestration büffelte.

Danach war Barenboim zuerst einmal hauptsächlich Pianist, und von Anfang an spielte er die großen, schweren Repertoire-Brocken: sämtliche Beethoven-Sonaten und Konzerte, dito für Mozart und natürlich das Wohltemperierte Klavier. Aufsehen erregte er aber bei Kritikern auch mit seiner Gesamtaufnahme der „Lieder ohne Worte“ von Felix Mendelssohn Bartholdy. Hier beschäftigte sich ein jüdischer Pianist mit Hingabe und großem Können mit den einst weltberühmten, durch die Nationalsozialisten jedoch als seicht und wertlos diskreditierten Klavierminiaturen eines Komponisten mit jüdischen Wurzeln. In den siebziger Jahren war so etwas überraschend neu.

Mitte der Sechziger – Barenboim war bereits unterwegs in Richtung Weltruhm – erwischte ihn die Liebe in Gestalt der britischen Cellistin Jacqueline du Pré. Sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung heiratete er du Pré, die seinetwegen zum Judentum konvertiert war, in Jerusalem inmitten des Sechstagekriegs. Die Bilder des Hochzeitspaares in Kippa und Schleier vor der Klagemauer gingen um die Welt. Die Ehe war, wie wir heute wissen, keine glückliche. Die Cellistin, die mit 42 Jahren an Multipler Sklerose sterben sollte, hat den Dirigenten mit dem Mann ihrer Schwester betrogen und dies mit Rücksicht auf ihre angegriffene Gesundheit auch noch gerechtfertigt.

Musikalisch jedoch sind diese Jahre für Barenboim eine Zeit des ungetrübten Glücks. Zusammen mit seiner Frau und den Geigern Pinchas Zukerman und Itzhak Perlman macht er viel Kammermusik – es entstehen eine berühmte Aufnahme des Forellenquintetts mit dem Dirigenten Zubin Mehta am Kontrabaß und zusammen mit Perlman die Gesamtaufnahme der Mozartschen Violinsonaten –, aber damals beginnt auch seine Leidenschaft für das deutsche Kunstlied. Barenboim ist, was nicht jeder weiß, auch einer der bedeutendsten Liedbegleiter unserer Zeit. Mit Dietrich Fischer-Dieskau hat er die großen Liederzyklen von Schubert und fast alle Lieder von Hugo Wolf musiziert und mit Jessye Norman die selten zu hörenden Lieder von Johannes Brahms aufgenommen.

Irgendwann muß ein Pianist, der auch Dirigent ist, sich entscheiden, was er sein will: Pianist oder Dirigent. Für Barenboim kommt diese Entscheidung Mitte der siebziger Jahre, als das Orchestre de Paris ihm den Posten des Musikdirektors anbietet. Das Orchester ist angeblich das beste von ganz Frankreich, aber in Wirklichkeit ist es damals ein Sauhaufen. Karajan und Solti sind jeweils nach drei Jahren als Chefs geradezu geflüchtet. Barenboim jedoch gelingt es in seinen 14 Jahren als Chefdirigent (1975–1989), das Niveau des Orchesters deutlich zu heben. 

Eine solche Pionierarbeit empfiehlt einen Dirigenten auch für andere Aufgaben, und die kommen auch: 1981 dirigiert Barenboim zum ersten Mal in Bayreuth und dann auch noch gleich den „Tristan“. Für einen jüdischen Dirigenten, dessen Eltern längst in Israel leben und für den sein Judentum ein wichtiger Teil seiner Identität darstellt, ist das ein Wagnis, denn Wagner ist wegen seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ für viele Juden immer noch ein Riesenproblem. Aber Barenboim trennt erfolgreich zwischen dem Antisemiten und dem Opernkomponisten Wagner, dirigiert ab sofort jedes Jahr in Bayreuth und leitet 1988 auch die Neuproduktion des „Rings des Nibelungen“.

Als Barenboim sich mit Wagner einmal so weit vorgewagt hat, ist der nächste Schrift fast schon logisch: Barenboim würde in Israel Wagner dirigieren, dessen Musik dort seit 1938 nicht mehr öffentlich aufgeführt wurde. Genau das tut er im Mai 2001 in Jerusalem, als er die Staatskapelle Berlin im Vorspiel zu Wagners „Tristan“ dirigiert. 

Parallel zu diesem Tabubruch, der ihm eine bis heute andauernde Feindschaft orthodoxer Kreise in Israel eingetragen hat, begeht Barenboim zur selben Zeit aus Sicht seiner Landsleute noch einen viel schlimmeren: Er gründet ein aus jungen Israelis und Arabern zusammengesetztes Orchester, das er, frei nach Goethe, „West-Eastern Divan Orchestra“ nennt und in Konzerten im Gaza-Streifen, Westjordanland und in mehreren arabischen Ländern dirigiert.

Bei allem Können und aller harten Arbeit hat Barenboim auch Glück. Genau zu der Zeit, als sich sein Ruf als Dirigent von Weltrang immer weiter verbreitet, wird der Chefposten beim Chicago Symphony Orchestra frei. 1991 wählt das Orchester ihn zum Nachfolger des mit 79 Jahren zurückgetretenen Georg Solti; den Posten füllt er bis 2006 aus. Parallel dazu beginnt die Beziehung des Vielbeschäftigten zu Deutschland, als er, ebenfalls 1991, künstlerischer Leiter und Generalmusikdirektor der Staatsoper Berlin wird, was Barenboims Beziehung zur deutschen Hauptstadt begründet, wo er heute sein eigentliches Zuhause hat und mit seiner zweiten Frau lebt. An der Staatsoper Unter den Linden dirigiert Barenboim einen gefeierten „Ring“, widmet sich mit seinen Berlinern aber auch den Opern und Orchesterwerken von Alban Berg und bietet einen kompletten Zyklus sämtlicher Bruckner-Sinfonien. Und weil all diese Aufgaben den Rast- und Ruhelosen anscheinend noch immer nicht ausfüllen, übernimmt Barenboim 2011 auch noch die Leitung der Mailänder Scala.

Wer so viel im Leben tut, der kann nicht alles gut machen. Barenboim ist auf vielen Hochzeiten unterwegs. Vielleicht auf zu vielen. Als Pianist hat er sich in den letzten drei Jahrzehnten nicht mehr fortentwickelt. Was er als junger Mann pianistisch gelernt hat, kann er immer noch, aber weder hat er sein Repertoire erweitert, noch spielt er heute Beethoven, Bach oder Brahms anders als vor fünfzig Jahren. Seine Aufnahmen als Dirigent liegen alle auf hohem Niveau, trotzdem ist kaum eine davon so zwingend wie vergleichbare Einspielungen von Georg Solti, Carlos Kleiber, Leonard Bernstein oder auch Carlo Maria Giulini. 

Am 15. November spielt er mit der Staatskapelle Berlin unter Zubin Mehta Beethovens fünftes Klavierkonzert. Das ist auch der Tag, an dem Daniel Barenboim 75 Jahre alt wird.

 http://danielbarenboim.com

 www.staatsoper-berlin.de