© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Ende vom Traum der Chancengleichheit
USA: Debatte um das Vielfalts-Visum- Lotterieprogramm nach dem Terroranschlag in New York City
Elliot Neaman

Sayfullo Saipov, ein neunundzwanzigjähriger usbekischer Staatsbürger, der der Hauptverdächtige des jüngsten terroristischen Anschlags in New York vom 31. Oktober ist und sich stolz als Täter dazu öffentlich bekennt, kam 2010 über ein sogenanntes Vielfalts-Visum-Lotterieprogramm in die Vereinigten Staaten. Saipov benutzte einen gemieteten Lastwagen, um Fahrradfahrer auf einer beliebten Radstrecke in Lower Manhattan in der Nähe der Gedenkstätte World Trade Memorial Center niederzumähen. 

Acht Menschen starben, darunter fünf Argentinier sowie ein Belgier. Mindestens elf weitere wurden verletzt. Der Fahrer prallte in einen Schulbus, der ihn daran hinderte, weiterzufahren und weiteren verheerenden Schaden anzurichten. Als er aus dem Lastwagen sprang und zwei Schußwaffenattrappen schwang, brüllte er Allahu Akbar, den charakteristischen Schrei der von Isis angespornten Terroristen.    

Republikaner standen bei Gesetzgebung Pate

Unmittelbar nach dem Vorfall twitterte Präsident Trump, daß die USA bei der Einwanderung „viel härter und klüger“ werden müßten, und er gelobte, das „Lotteriesystem der Demokraten“ zu beenden, womit er die Schuld der Oppositionspartei gab. 

Doch das Programm ist nur in dem Sinne eine Lotterie, daß – obwohl Millionen von Menschen jedes Jahr einen Antrag stellen – nur sehr wenige auch tatsächlich ein Visum erhalten. Im Gegensatz zu einer Lotterie kann man sich nicht einfach eine Eintrittskarte kaufen. Die Netzseite des Außenministeriums schreibt vor, daß ein Einwanderer aus einem berechtigten Land kommen muß. Was bedeutet, aus einem Land mit niedrigen Einwanderungswerten in die Vereinigten Staaten. Dies schließt beispielsweise Antragsteller aus Mexiko oder China aus. 

Bewerber müssen ferner einen Highschool-Abschluß oder eine zweijährige Berufserfahrung aufweisen. Außerdem gibt es ein persönliches Vorstellungsgespräch, das einen kriminellen Hintergrund sowie sicherheitsrelevante Themen überprüft. Die Chancen, ein Visum zu bekommen, sind in Wirklichkeit wie bei einer Lotterie gering. Im vergangenen Jahr wurden der Gruppe von annähernd zwölf Millionen Menschen, die sich darum bewarben, nur knapp mehr als 45.000 Visa gewährt.

Trump wies die Schuld für das Visaprogramm unzulässigerweise dem Senator von New York Charles Schumer und den Demokraten zu. Im Jahr 1990 war der damalige Kongreßabgeordnete Schumer Schirmherr eines Einwanderungsgesetzes, das Vorsorge traf für die Vielfaltslotterie, doch es sollte Visa für Vielfaltseinwanderer aus „Niedrigzulassungs“-Ländern bereitstellen. Schumer stand der Tatsache recht offen gegenüber, daß  vor allem den Iren mehr legale Wege zur Erlangung der US-Staatsbürgerschaft gegeben werden sollten.

Die Geschichte des Vielfalts-Visa-Lotterieprogramms begann 1965, als Präsident Lyndon B. Johnson das Einwanderungs- und Nationalitätsgesetz (Immigration and Nationality Act) unterzeichnete, das das Not-Quotengesetz von 1921 (Emergency Quota Act of 1921) beendete. Das Ziel des neuen Gesetzes war es, Familien wieder zusammenzuführen, so daß Antragstellern, die engste Angehörige in den Vereinigten Staaten hatten – Kinder, Ehepartner, Geschwister und Eltern – Priorität eingeräumt wurde. 

Das Gesetz hatte unbeabsichtigte Folgen. Da Einwanderer aus Lateinamerika und Asien in jüngerer Zeit in die Vereinigten Staaten gekommen waren, die im Ausland oftmals enge Familienangehörige hatten, wurde diesen unter dem neuen Programm der Vorrang gegeben.

 Europäer, die sich schon seit Jahrzehnten im Land aufhielten und weniger nahe Verwandte im Ausland hatten, wurden benachteiligt. Insbesondere viele junge Iren waren vor einer sich verschlechternden Wirtschaftslage in ihrer Heimat in den 1980ern geflohen und kamen auf der Suche nach einer besseren Zukunft in die USA. Doch sie trafen oftmals mit Touristenvisa ein und blieben dann illegal im Land.

Schumers Vorschlag war Teil eines umfassenderen Einwanderungspaketes, das den Kongreß mit der Unterstützung beider Parteien passierte. Sogar der derzeitige Trump-Verteidiger Newt Gingrich sowie der Mehrheitsführer im Senat Mitch McConnell stimmten dafür. George H. W. Bush unterzeichnete das Gesetz im Jahr 1990.

Werfen wir jetzt einen Blick auf 2013, als die sogenannte Achterbande („Gang of Eight“) – Senatoren beider Parteien – versuchte, mit der Unterstützung beider Parteien eine Revision des Einwanderungsgesetzes zu verabschieden. Dieses Gesetz hätte das Vielfalts-Visa-Lotterieprogramm beendet, doch es segnete das Zeitliche im Repräsentantenhaus, teilweise wegen der heftigen Lobbyarbeit des jetzigen Justizministers Jeff Sessions und seines damaligen Beraters und jetzigen Senior Advisors des Weißen Hauses Stephen Miller. Das Gesetz hätte die Vielfalts-Visa an anderer Stelle ins System gerückt und sie verringert und ein auf Leistung bezogenes Programm eingeführt, das vielfältige Faktoren wie Familie und berufliche Qualifikationen berücksichtigt hätte.

Die Vielfaltslotterie repräsentierte für viele US-Amerikaner, wie auch gleichermaßen für Ausländer in den Vereinigten Staaten, die Ideale der Chancengleichheit für Einwanderer in die USA, weil sie allen offenstand, statt nur denjenigen, die das Glück haben, über Verwandte in dem Land oder höchst begehrte Qualifikationen zu verfügen. Die Gewinner machten einen äußerst kleinen Prozentsatz der mehr als eine Million Menschen aus, die jedes Jahr die Greencard erhalten. 

Nun soll ein neues Einwanderungsgesetz her. Es wurde von Tom Cotton und David Perdue im Senat eingebracht. Trump sagt, daß er es unterzeichnen werde. Dieses Programm würde die Vielfalts-Visa-Lotterie und bestimmte Kategorien von familienbezogenen Greencards abschaffen. Ein neues beschäftigungsbezogenes Punktesystem würde Einwanderer mit hohem Ausbildungsniveau, weitergehenden Kenntnissen und solche, die aus englischsprachigen Ländern kommen, bevorzugen. 

Obwohl breite Übereinstimmung dahingehend besteht, daß das Einwanderungssystem einer Fixierung bedarf, steht der Cotton-Perdue-Gesetzentwurf noch immer vor einer ungewissen Zukunft. Die Gesetzesvorlage würde die Anzahl der jährlich gewährten Greencards um die Hälfte reduzieren, eine Maßnahme, die den Widerstand von Demokraten und Republikanern gleichermaßen anheizen könnte, die wissen, daß in ihren Bezirken die Einwanderer der Wirtschaft helfen und nicht schaden.