© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Der Flaneur
Brüten am Rhein
Bernd Rademacher

Ich stehe auf historischem Boden: Auf der Wiese, über die ich stapfe, haben Schlachten stattgefunden. Ich stehe vor dem „Schnellen Brüter“ in Kalkar am Niederrhein. In den frühen 1980ern lieferten sich militante Atomkraftgegner und Polizeikohorten hier blutige Gewaltexzesse. Das Atomkraftwerk ging nie ans Netz. Zurück blieb ein absurdes Beton-Massiv direkt am Rhein­ufer. Heute ist hier das Messegelände Kalkar, ein Festivalarial, ein Zirkusplatz sowie ein Kinderparadies.

„Schneller Brüter, leiser Töter“, hieß es damals. Heute ist es weder still noch tödlich.

Wo früher Wasserwerfer und Mannschaftswagen auffuhren, parken heute Messebesucher aus ganz Deutschland. In der Halle schlendere ich um die Stände und fülle meinen Stoffbeutel mit Werbekulis und Gummibärchentüten. Die fleißigen Hostessen bieten Kaffee an, mit dem ich den Glutamatgeschmack vom Asiafood-Stand herunterspüle. Ein Aussteller, der jedes Jahr hier ist, zeigt mir die unterirdischen Katakomben: Mit dem Aufzug fahren wir zwanzig Meter in die Tiefe. Wo früher Brennstäbe lagern sollten, ist heute eine Kneipenmeile und eine Bühne für Livemusik. Es herrscht eine bizarre Bunkeratmosphäre. „Schneller Brüter – stiller Töter“, sang damals eine linke Politrock-Band. Heute ist es weder still noch tödlich, in den Kneipen trinken die Messegäste schon mittags das erste Pils.

Wieder oben, versuche ich, einen Weg zum Rheinstrand zu finden, doch alle Wege enden vor Mauern und Zäunen. Ich gehe so lange an dem Zaun entlang, bis ich ein Schlupfloch finde. Noch einen Weidezaun überwunden, und schon steige ich den Deich hinab bis zur Uferböschung. Auf dem Strom kämpft sich ein majestätischer Tanker flußaufwärts. Was hat der Vater Rhein schon alles gesehen? Vor zweitausend Jahren standen hier die Römer und drüben die Germanen. Vor hundert Jahren sangen die Kriegsfreiwilligen „Die Wacht am Rhein“, als sie zur Westfront übersetzten. Ich werfe Kiesel ins Wasser und summe „Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein ...“