© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Verhängnisvolle Verheißung
Die Oktoberrevolution in Rußland begründete ein bipolares Jahrhundert / Beglückungsversuch der Menschheit war von Massengräbern gesäumt
Eberhard Straub

Die Amerikanisierung und mit ihr die Einheit der Welt hielt der Brite William T. Stead 1902 für die Bestimmung des 20. Jahrhunderts. Im veralteten Europa fürchtete er keine Kräfte mehr, die sich dieser gottgewollten Entwicklung widersetzen könnten, in der sich die Heilsgeschichte der Vernunft als dauerndes Fortschreiten zur Freiheit vollendet.Der einflußreiche Journalist und Spiritist Stead verkehrte häufig mit Geistern aus dem Jenseits. Aber keine Stimme hatte ihn davor gewarnt, sich vor Übertreibungen und damit vor Täuschungen in acht zu nehmen.

Fünfzehn Jahre später, im März 1917, begann der sich überstürzende Zusammenbruch des alten, völlig rat- und hilflos gewordenen Rußland. Am 7. November (nach dem julianischen Kalender in Rußland der 25. Oktober) eroberten die Bolschewisten das Winterpalais in Petrograd – übrigens weit weniger spektakulär als später in den sowjetischen Verklärungen dargestellt – und übernahmen von nun an die Macht in der künftigen Sowjet-union. Die jungen Revolutionäre – Lenin, Trotzki, Kamenew, Sinowjew und Stalin –, voller Kraft, Rücksichtslosigkeit und wissenschaftlich disziplinierter Phantasie, wollten nicht nur Rußland, sondern gleich der Menschheit den Weg ins Freie, in eine verheißungsvolle Zukunft weisen. Sie beanspruchten hochgemut, in Übereinstimmung mit dem vernünftigen Weltgeist zu stehen, wenn sie versprachen, die Proletarier aller Länder zu befreien und die gesamte Welt endlich von den Übeln eines hemmungslosen Kapitalismus zu erlösen.  

Mit ihrem und Rußlands Recht zur Weltrevolution forderten die Kommunisten die immer wieder in den USA beschworene Bestimmung heraus, als leuchtende Stadt auf dem Berge von Gott dazu auserwählt worden zu sein, allen Menschen zu ihrer Unabhängigkeit in demokratisch verfaßten Gemeinschaften zu verhelfen und sie auf diese Art sich anzugleichen, also zu Amerikanern zu machen. Seit 1917 – mit dem Eintritt der USA in den Großen Krieg, der darüber erst zum Weltkrieg wurde, und mit der Oktoberrevolution in Rußland – konkurrierten zwei universale Heils-erwartungen miteinander. 

Zwangsbeglückungen wie nach der Revolution 1789

Das zwanzigste Jahrhundert konnte daher gar nicht zum amerikanischen Jahrhundert werden. Vielmehr rangen zwei politische Glaubensbekenntnisse um ihre alleinige Vorherrschaft. Die beiden politischen Theologien spalteten die Welt dauerhaft in zwei Teile, die erbittert das Scheitern des anderen als Voraussetzung einer allgemeinen Friedensordnung betrachteten. Nach dem Kollabieren der Sowjetunion bemühten sich die Oberhirten der westlichen Werte- und Konfessionsgemeinschaft sogleich darum, jede Erinnerung daran auszulöschen, welch große Hoffnungen mit dem Kommunismus und der Sowjet­union einmal verknüpft waren. 

Die schrecklichen Gewalttätigkeiten während des Aufbaus der Sowjetunion und später aller übrigen kommunistischen Systeme in Europa, Asien, Afrika oder in Kuba konnten das feste Vertrauen auf die frohe Botschaft der heilenden und rettenden Weltrevolution lange nicht erschüttern. Seit der Französischen Revolution gehörte der Terror zu den unvermeidlichen politischen Waffen, jene auszuschalten oder energisch einer Umerziehung zu unterwerfen, die sich dem humanitären Fortschritt in undemokratischer Verstocktheit verweigerten. Keine Toleranz den Intoleranten! 

Revolutionäre Menschenfreunde wie Danton und Robespierre wollten deshalb 1793 nicht auf heilsame Blutbäder verzichten, auch um noch unsauberen Gesellen Gelegenheit zu verschaffen, sich darin geistig und sittlich zu reinigen und in bewährter Gesinnungstüchtigkeit anschließend überall für frische, belebende Luft zu sorgen, damit die Französische Republik eine schöne, neue Welt vorbereiten könne, die den ganzen Erdball erneuert. Die Reinheit der Idee durfte nicht vor unreinen, unzulänglichen Unmenschen verzagen. Das war die Botschaft der konsequenten Revolutionäre von 1793. 

Seitdem wissen wir, daß der Mensch sich nicht allzu wichtig nehmen soll, vor allem wenn es um den Fortschritt, die Menschheit und die Menschlichkeit geht. Denn auf diese großen Abstraktionen kommt es an. Ihnen zuliebe ist das zwanzigste Jahrhundert zu einer Zeit voller Niedertracht und Gemeinheit geworden, verführt „vom brillanten Narrenspiel der Hoffnung“, das Massen seit 1789 aufregte und sie weiterhin betören würde, wie Jacob Burckhardt, ein großer Historiker, weil dem Geist seiner Zeit mißtrauend, um 1890 vermutete. 

Das besiegte und von Bürgerkriegen zerrüttete Rußland mußte freilich zuerst einmal in eine neue stabile Verfassung gebracht werden, um auf andere als berechtigter Führer des Kommunismus anziehend wirken zu können. Stalin verriet nicht die Revolution, wenn er sich nach Lenins Tod 1924 als dessen Nachfolger vorzugsweise darum bemühte, in der Sowjetunion, um das alte Rußland geschart, mit Hilfe der Partei den Staat und die Verwaltung neu zu organisieren. Die universale Idee beschränkte er vorerst auf das pragmatische Prinzip des „Sozialismus in einem Lande“, das auf die jeweiligen Gegebenheiten Rücksicht nahm und damit die Geschichte nicht außer acht ließ. 

Die konkrete Menschheit bestand aus vielen Völkern, aus großen Individuen, die eben nicht alle gleich waren und nicht allzu grob über die Partei gleich geschaltet werden sollten. Nationale Nuancen mußten nicht nur in der Sowjetunion zugelassen werden, wobei es sich die russische Partei als Hegemon vorbehielt, dafür zu sorgen, daß Abweichungen nicht die Einheit und den Zusammenhang des von ihr angeführten Bundesgenossenverbandes gefährdeten. Stalin wußte, daß Rußland alleine gar nicht die Welt revolutionieren konnte. Es war auf die Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Parteien in ihren Nationen angewiesen, vor allem im klassischen Land des Sozialismus, nämlich in Deutschland. 

Trotz mannigfacher Sympathien unter den besiegten Deutschen für einen Aufstand gegen die liberale, durch den Weltkrieg diskreditierte Bürgerlichkeit und den zu ihr gehörenden Kapitalismus, verweigerten sie sich zur Enttäuschung Stalins der Revolution. Das nötigte ihn erst recht dazu, sich auf die Sowjetunion zu konzentrieren, um sie in die Lage zu versetzen, als wirtschaftliche und militärische Großmacht wie als gesellschaftliches Vorbild internationalen Einfluß zu gewinnen. 

Die europäischen Sozialisten in ihrem jeweiligen Lande wehrten sich mehrheitlich gegen den Kommunismus in seiner russischen Gestalt. Sie hielten den Sozialismus für eine französische und deutsche Lehre und waren deshalb gar nicht gewillt, auf ihr Erstgeburtsrecht zugunsten Rußlands zu verzichten, gegen das es stets erhebliche Vorbehalte gegeben hatte. 

Die Linke war von nun an gespalten und zersplitterte in viele Sozialismen, die mit der verunsicherten Bourgeoisie und der kapitalistischen Wirtschaft Kompromisse schlossen. Aus Angst vor  gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Umsturz, also vor der Revolution, lösten sie sich weitgehend von ihrer philosophischen und wissenschaftlich soziologischen Herkunft, um gar nicht erst als Marxisten mit den Kommunisten verwechselt zu werden. Links war nur noch eine Redensart, um sich von rechten Bewegungen oder Parteien zu unterscheiden. Die wirklichen und einzigen Linken blieben die Kommunisten. Sie feierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg, dem „Großen Vaterländischen Krieg“ Rußlands und der Sowjetunion, in Westeuropa als Sieger über den Nationalsozialismus und Faschismus. 

Nur der Antifaschismus ist als Relikt übriggeblieben

Der Kommunismus in seiner russischen Ausprägung hatte sich heroisch bewährt, was seine Attraktivität erheblich steigerte in Afrika und Asien, unter allen Völkern, die nach Selbstbestimmung verlangten. Er war zu einer unübersehbaren Weltmacht geworden und zu einer unüberhörbaren, weil er Intellektuelle und Künstler für sich einnahm, gerade auch in der sogenannten freien Welt und im freien Europa. Der Geist steht links. Das meinte nicht, daß er etwas mit dem biederen Sozialdemokraten zu tun hatte, sondern mit Kommunisten, die sozialistische Gedankenprogramme und ästhetische Formen verlockend zu verbinden verstanden. 

Das Dilemma für alle übrigen, die sich links nannten, ohne links zu denken oder zu handeln, ergab sich aus ihrer Ablehnung der Kommunisten, denen sie allerdings die Anerkennung als entschiedene Antifaschisten nicht verweigern konnten. Sie kämpften gegen Links und reihten sich in den Antifaschismus ein, der möglichst nicht befleckt sein sollte von Linksfaschisten oder rot lackierten Nazis, wie der kommunistische Feind charakterisiert wurde. Auf diese Art gelang es, allmählich sehr erfolgreich, linke Ideen und linke Politik aus dem öffentlichen Gespräch zu verdrängen. Es gibt nur noch Antifaschismus, der überall aktiv werden kann und der sich in beliebigen Aktionen auffällig bekundet, die ohne Marx, Engels, Lenin, Lukács oder Sartre, Althusser und Gramsci auskommen.  

Der Kommunismus verschwand nach der Auflösung der Sowjetunion endgültig im Antifaschismus. Das heißt jedoch nicht, daß er ein für allemal besiegt ist. Ideen lassen sich nicht so leicht liquidieren wie Menschen. Sie leben immer fort und können in neuen Zusammenhängen und Umdeutungen wieder geschichtsmächtig werden. China ist weiterhin eine kommunistische Großmacht, die auf sehr eigenwillige Weise den Sozialismus in einem Lande aufbaut. 

Es gibt ein Heimweh nach kommunistischen Experimenten gerade in den Ländern, die der Globalisierung und ihrer homogenisierenden Zwänge überdrüssig sind. Die Einheit der Welt haben die USA nicht erreicht. Das Universum stellt sich weiterhin als Pluriversum dar. Zur Amerikanisierung der Welt wird es wohl auch im 21. Jahrhundert nicht kommen.