© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Schlüsselland der Einwanderungsfrage
Marokko: Dynamik, Stabilität und Kooperationsbereitschaft sind die Markenzeichen des Königreichs
Jürgen Liminski

Ein Gerücht sorgte jüngst  für Aufregung: Algeriens Präsident Abd al-Aziz Bouteflika sei gestorben. Es wurde sogleich dementiert, plausibel war es dennoch. Der Präsident ist schwerkrank und tritt nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Mit den seltenen Besuchern verständigt der nur noch flüsternde Achtzigjährige sich über ein kleines Mikrofon. Die Besuche beim „starken Mann Algeriens“ dauern maximal eine Stunde, dann läßt die Wirkung der Medikamente nach. 

Es ist nur eine Frage kurzer Zeit, bis das Gerücht zum Faktum wird. Dann drohen in Algerien Unruhen, möglicherweise sogar libysche Zustände – mit der Folge, daß dann wieder viele Hunderttausende nach Europa strömen. 

Christen leben in relativer Sicherheit

Noch funktionieren die Geheimdienste und die Mechanismen der Unterdrückung von politischen Freiheitsgelüsten. Aber wie lange noch? Die Wirtschaft steht wegen der gefallenen Öl- und Gaspreise am Abgrund, die Arbeitslosigkeit wächst. Algerien ist ein Pulverfaß, und die Lunte glimmt bereits. 

Aber niemand weiß, wie lang die Lunte ist. Schon warten die Schlepper. Krieg ist auch nur ein Migrationsgrund. Demographie ist der zweite. Während der Herrschaft Bouteflikas hat sich die Bevölkerung in dem größten Flächenstaat Afrikas auf fast 40 Millionen verdoppelt. In zwanzig Jahren lebt jeder zweite Jugendliche auf der Welt in Afrika. 

Aktuell wartet fast eine Million Migranten in Libyen unter unmenschlichen Zuständen auf eine Chance, auf ein Boot zur Überfahrt nach Europa. Italien ist überfordert, Frankreich sperrt sich. Aber wer soll die künftigen Migrationsströme aus Afrika aufhalten?

 Im Nachbarland Libyen entwickelt sich General Chalifa Haftar zum starken Mann. In Algerien könnte es auch ein General werden. In Ägypten regiert schon General Abd al-Fattah as-Sisi mit harter Hand. 

Und Marokko? Hier herrscht König Mohammed VI. Er erlaubt kleine Freiheiten und genießt als direkter Nachkomme des Propheten besonderes Ansehen in der Bevölkerung. Ab und zu läßt er die Europäer spüren, daß er das Migrationsventil bedient. Dann schauen seine Grenzwachen weg, und plötzlich stürmen Hunderte Flüchtlinge die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Sie kommen aus Mali, Benin, den Senegal, Mauretanien, Burkina Faso und selbst aus Kamerun und noch weiter südlich. Sie alle wissen: Wer in Ceuta oder Melilla Fuß faßt, braucht nicht mehr über das Mittelmeer. 

Eigentlich sind die spanischen Enklaven schon so etwas wie Hotspots, Auffang- und Registrierstationen auf afrikanischem Boden. An der Zusammenarbeit mit dem König führt kein Weg vorbei. Und warum auch? Mohammed VI. ist ein moderater und modern gesinnter Monarch. Natürlich kann in Marokko von Demokratie nicht die Rede sein, wie übrigens in keinem der 57 Länder der Islamischen Liga. 

Europa hat ein hohes Interesse, mit dem König zu kooperieren. Die Abschiebungen nach Marokko haben sich dieses Jahr verdreifacht. Nach Tunesien und Algerien stocken sie. Mit Rabat scheint es sich leichter zu verhandeln.

Verhandlungen mit Mohammed VI. haben auch mehr Zukunftsperspektive. Das Land ist stabil. Zwar haben Christen in Marokko kein einfaches Leben. Mission ist wie in allen muslimischen Ländern verboten. Im Juni haben 7.000 religiöse Führer ein Dokument unterzeichnet, das Aktivitäten von Christen als „moralische Vergewaltigung“ und „religiösen Terrorismus“ verurteilt. Der Minister für religiöse Stiftungen in Marokko hält auch die jüdische Religion für subversiv, sie untergrabe die öffentliche Ordnung. Das Religionsministerium, das sich um diese Fragen kümmern sollte, stimmte zu. 

Aber anders als in anderen muslimischen Ländern dürfen Christen ihren Glauben ausüben, es gibt auch Kirchen. Man kann vermuten, daß der König diese Umtriebe religiöser Führer als Ventil benutzt, um die Unruhe in islamistischen Kreisen von sich abzulenken.

Mehr noch: Als „Amir al-Muminine“, Prinz der Gläubigen, versucht Mohammed VI. auch über die Religion, genauer über die Angehörigen des malekitischen Ritus, Einfluß auf die Nachbarländer in der Subsahara auszuüben. Diese eher islamisch-gemäßigte Glaubensrichtung wird besonders von der Sufi-Bruderschaft Tijaniyya praktiziert. In Mali, dem Senegal und Nigeria wird die Zahl der Anhänger dieser Richtung auf 35 bis 40 Millionen geschätzt. Der Gründer ist in Fes begraben, eine Pilgerstätte für die Gläubigen. 

Der Einfluß Algeriens in Afrika sinkt stetig

Der König versucht, diesen auch von anderen Bruderschaften und Institutionen unterstützten „Islam der gerechten Mitte“ als Bollwerk gegen radikale Strömungen auszuweiten. So bildet seit 2013 das „Institut Mohammed VI.“ Imame und religiöse Berater auch aus Mali, der Elfenbeinküste, Guinea und neuerdings auch aus dem Tschad aus. Marokko vergibt an diese Studenten Stipendien. Eine weitere Institution, die „Stiftung Mohammed VI.“ hält seit Sommer 2016 Treffen von islamischen Würdenträgern und Gelehrten aus 30 Ländern ab, um diese gemäßigte Richtung des Islam zu verbreiten und in Afrika zu verankern.

Gleichzeitig weitet Marokko auch seinen wirtschaftlichen Einfluß aus. Schon heute ist das Land nach Südafrika der zweite Investor im Schwarzen Kontinent. 85 Prozent der Investitionen werden in Afrika getätigt, schreibt die Afrikanische Entwicklungsbank. Es geht um Dünger, Häuserbau, Bankensysteme oder auch Gaspipelines vor allem in Westafrika, aber auch in Uganda, Ruanda und beim Hauptrivalen Südafrika. 

All diese kulturellen und wirtschaftlichen Initiativen verfolgen auch politische Ziele. Marokko will wieder seinen Platz in der  OAU, der Organisation der Afrikanischen Union, voll einnehmen. 1984 verließ Rabat die OAU, weil sie die Demokratische Arabische Republik Sahara, aufgenommen hatte. Diese de facto nicht lebensfähige und von der Widerstandsbewegung Polisario geführte Republik beansprucht die Westsahara für sich. Marokko sieht diesen phosphatreichen Landstrich aber als eigenes Staatsgebiet an und hat Teile davon besetzt. Seit die Spanier sich aus dem Konflikt zurückgezogen haben, lebt die Polisario von der Unterstützung aus Algier. Erst im Januar war Marokko in die OAU zurückgekehrt.

Rabat will die Polisario isolieren, Algier hält dagegen. Aber der Einfluß Algeriens in Afrika sinkt, Marokkos Ansehen steigt. Die Lage an der Spitze beider Länder ist symptomatisch. König Mohammed könnte, mit europäischer Hilfe, die Flüchtlingsströme aus Afrika in Richtung Europa schon in der Tiefe des Kontinents eindämmen, Algerien ist momentan dazu nicht in der Lage.