© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Über den Schatten springen
Studie: Das Vergangenheitstrauma der Deutschen verhindert eine strategisch durchdachte Sicherheitspolitik
Peter Möller

Im Bendlerblock macht sich Nervosität breit. Mit wachsender Sorge blickt die Bundeswehrführung auf die Sondierungsgespräche zur Bildung einer „Jamaika“-Koalition aus Union, FDP und Grünen. Denn was bislang zum Thema Bundeswehr aus den noblen Verhandlungszimmern im ehemaligen Palais des Reichstagspräsidenten an der Spree nach außen gedrungen ist, verheißt für die Truppe wenig Gutes. Vor allem die Grünen würden bei den Militärausgaben am liebsten kräftig sparen. Und auch aus den Reihen der FDP gibt es Vorbehalte, die Ausgaben signifikant anzuheben. „Wir müssen erst mal definieren, was soll die Bundeswehr machen. Dann entscheiden wir über die Waffen“, trat der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki in der vergangenen Woche verbal auf die Bremse. Damit war klar: Die Finanzierung der Bundeswehr wird bei den Jamaika-Verhandlungen zur Verfügungsmasse gehören. 

Berlin als schwächstes  Glied in der Kette 

In Berlin wird daher bereits vor einem sicherheitspolitischen Tiefschlaf gewarnt, den sich Deutschland nicht leisten könne. Denn die Zeit drängt. Bereits im Dezember müssen mehrere Mandate für Auslandseinsätze der Bundeswehr verlängert werden. Nach dem Willen der militärischen Führung soll in diesem Zusammenhang die Zahl der in Afghanistan stationierten Soldaten aus Sicherheitsgründen wieder erhöht werden. Doch da sich die Koalitionsbildung hinzieht und die Handlungsmöglichkeiten der nur noch geschäftsführenden Bundesregierung begrenzt sind, sollen die Mandate nun zunächst ohne die als notwendig angesehenen Änderungen verlängert werden.

Ebenso fatal ist die sich abzeichnende Hängepartie bei der Finanzierung der Bundeswehr für die Beschaffung von Ausrüstung und Ersatzteilen. Wie angespannt die Lage mittlerweile ist, machte jüngst die Meldung deutlich, daß derzeit keines der sechs deutschen U-Boote einsatzfähig sei. Diese Mißstände sind auch den Verbündeten nicht verborgen geblieben. Das geht aus einer Mitte Oktober veröffentlichten Studie der Denkfabrik „Friends of Europe“ hervor, die derzeit in Berlin für Diskussionen sorgt. Die Autoren des Papiers mit dem Titel „Über den eigenen Schatten springen. Deutschland und die Zukunft der europäischen Verteidigung“ gehen mit dem Zustand der Bundeswehr hart ins Gericht. Bei Nato-Einsätzen müßten die deutschen Truppen Ausrüstung aus anderen Einheiten abzweigen und „alte Ausrüstungen ausschlachten“, heißt es in der Mängelliste. Die meisten Hubschrauber seien fluguntauglich, nicht viel besser sehe es bei den Flugzeugen aus. Da Ersatzteile Mangelware seien, sei nur die Hälfte der Eurofighter einsatzfähig. Aus einer Staffel von 24 Kampfflugzeugen könnten „oft nur zehn oder manchmal nur sechs abheben“, wird ein mit der Lage der Bundeswehr vertrauter amerikanischer Militär zitiert. „Das Instandhaltungsproblem ist Gegenstand großer Besorgnis bei der Nato und für das US-Militär, das Seite an Seite mit den Deutschen arbeitet“, faßt die Studie zusammen. Zwar sei die Bundesregierung mittlerweile bestrebt, die Bundeswehr wieder voll auszurüsten. Dies sei für eine Armee, die sich daran gewöhnt habe, „Flugzeuge, Hubschrauber, Panzer, Fahrzeuge und Schiffe auszuschlachten, um eine begrenzte Zahl am Laufen zu halten“, eine Herkulesaufgabe, die zehn bis 15 Jahre in Anspruch nehmen dürfte.

Dabei seien die Erwartungen an das militärische Engagement Berlins so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Der Druck auf Deutschland, seine militärische Leistungsfähigkeit zu steigern, wachse zunehmend. Doch dies werde durch den historisch bedingten Umstand erschwert, daß „Europas wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Nation schon lange das schwächste Glied in der Kette ist, wenn es um militärische Entschlossenheit geht“, heißt es in der Studie, die unter anderem auf Interviews mit 40 deutschen und europäischen Politikern, Militärs, Strategen, Diplomaten und Führungskräften der Verteidigungsindustrie beruht und den Fokus auf eine Stärkung der nach Ansicht der Autoren „noch ziemlich unentwickelten“ europäischen „Sicherheits- und Verteidigungsunion“ legt.

Nicht nur den desolaten Zustand der Bundeswehr bei der Ausrüstung beschreibt das Papier in aller Deutlichkeit, sondern auch die geänderten Rahmenbedingungen. Seit 2014 sei Deutschland durch den Krim-Konflikt, den Brexit und die Flüchtlingskrise aus einer seit Ende des Kalten Krieges bestehenden Komfortzone gerissen worden. „Seine gemütliche strategische Umgebung wurde umgeworfen, und es wurde gezwungen, langjährige Strategien diplomatischer Vorsicht, militärischer Zurückhaltung und schrumpfender Verteidigungsausgaben zu überdenken.“ Berlin müsse eine größere Rolle übernehmen und seine Bundeswehr wieder aufbauen, „die durch 25 Jahre des Investitionsabbaus ausgehöhlt wurde, da mehreren Regierungen in Folge eine endlose ‘Friedensdividende’ kassiert haben“.

Detailliert listet die Studie die Probleme auf, die einer pragmatischeren deutschen Sicherheitspolitik im Wege stünden. „Die Bundeswehr unterliegt einer strikten parlamentarischen Kontrolle, militärische Tugenden sind verpönt, ein pazifistischer Einschlag hält sich vor allem in der politischen Linken und der evangelischen Kirche.“ Waffenexporte seien stark eingeschränkt und die Diskussion über aktivere Verteidigungsmaßnahmen werde in Euphemismen wie Friedenssicherung, Stabilisierung, Krisenmanagement oder „Bündnisfähigkeit“ gehüllt.

Vor diesem Hintergrund wird auch das Konzept der Rahmennationen kritisch gesehen, bei dem die Bundeswehr die Rolle einer „Andockstation“ übernimmt, in die Einheiten von Streitkräften kleinerer Staaten wie die Niederlande, Polen oder Tschechien integriert werden. Die Befürchtung vor allem von amerikanischer Seite: Die dabei erzielten Synergieeffekte könnten durch die schwerfälligen deutschen Entscheidungsstrukturen wieder zunichte gemacht werden.

Die Autoren haben klare Vorstellungen davon, was sich ihrer Meinung nach ändern muß: „Für Deutschland besteht die Herausforderung darin, über den Schatten seiner Vergangenheit zu springen, eine echte strategische Kultur zu entwickeln, eine aussagekräftigere Außenpolitik zu betreiben und brauchbarere Streitkräfte aufzubauen, die mit entsprechender Ausbildung und Ausrüstung bei Bedarf schnell einsetzbar sind.“

Diese Forderung wirft die Frage auf, welches Ziel die europafreundliche „Denkfabrik“ mit ihrer Studie verfolgt. Kritiker sehen das Papier denn auch stark von der europäischen Rüstungsindustrie und französischen außenpolitischen Interessen beeinflußt. Der Grundton der Studie ist allerdings nicht neu. Verteidigungsexperten bemängeln schon länger, daß die deutsche Verteidigungspolitik nicht auf langfristigen rationalen Überlegungen gründet, sondern von kurzfristigen Emotionen geleitet werde. So fehle es etwa an einer sogenannten stratégie générale als Grundlage für ein langfristiges politisches Handeln. Stattdessen werde lieber nach der Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“ verfahren. Daß ausgerechnet eine Jamaika-Koaliton daran etwas ändern würde, glaubt in Berlin indes niemand.