© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Abschied vom Schönwetterrecht
Einwanderung: Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier plädiert für eine erneute Reform des Asylrechts
Lukas Steinwandter

Darüber scheiden sich bis heute die Geister: War die Grenz-öffnung im September 2015 widerrechtlich? Die AfD glaubt ja und kündigte einen Untersuchungsausschuß im Bundestag an. Die Grünen wiederum sagen, die Aufnahme von Flüchtlingen sei eine humanitäre Verpflichtung, für die es keine Grenzen gebe. 

Schutz verfällt, wenn       die Gefahr vorüber ist

Einer, der Licht ins Dunkel des verworrenen Asyl- und Einwanderungsrechts bringen kann, ist Hans-Jürgen Papier. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts stand vor einem übervollen Saal in der Katholischen Akademie in Berlin, als er vergangenen Donnerstag die künftige Bundesregierung zu einer grundlegenden Reform der Einwanderungspolitik aufrief. „Die Asyl- und Flüchtlingspolitik krankte bislang daran, daß zwischen individuellem Schutzrecht und der freiwilligen Aufnahme von Migranten nicht unterschieden wurde“, mahnte der Staatsrechtler. Das geltende Recht sei ein „Schönwetterrecht“, das den aktuellen Entwicklungen „nicht mehr gewachsen“ sei. 

Vor allem im Jahr 2015 und die Monate darauf seien das Recht und die Wirklichkeit weit auseinandergedriftet. Damit die „Herrschaft des Rechts“ wiederhergestellt werden könne, bedürfe es einer grundlegenden Neuordnung. Vor allem aber sei eine „klare Unterscheidung“ nötig zwischen Asyl und Einwanderung. 

Scharf kritisierte der emeritierte Professor für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München die „Vermengung“ der unterschiedlichen rechtlichen Aufnahmeverfahren. Es sei ein „Kardinalfehler der Politik“ gewesen, das Asylrecht zusammen mit anderen Formen der Einwanderung zu vermischen. Papier stellte klar: Ein „individuelles Menschenrecht auf einen Aufenthalt in einem Staat der eigenen Wahl“ gebe es nicht. Es gebe drei Ebenen des Asyl- oder Flüchtlingsrechts. 

Erstens: Das Asylrecht nach Grundgesetz Artikel 16a. Nach dessen Änderung im Jahr 1993 war das Gesetz um das Prinzip der sicheren Drittstaaten ergänzt und der Zugang zu Asyl in Deutschland damit stark eingeschränkt worden. „Deutschland ist umgeben von sicheren Drittstaaten“, konstatierte der Staatsrechtler. Allen Ausländern, die über den Landweg nach Deutschland kommen, wäre die Einreise zu verweigern. Deshalb sei auch die in den vergangenen Monaten und in den Sondierungsgesprächen zwischen Union, FDP und Grünen heiß diskutierte Frage nach einer Obergrenze ein „unsinniger Streit, der offenbar auf Rechtsunkenntnis basiere. Auch wer tatsächlich politisch verfolgt ist, hat kein Recht auf Asyl in Deutschland, wenn er über einen sicheren Drittstaat einreist. 

Zweitens: Papier leitete mit einem großen „Aber“ ein, als er auf die EU-rechtlichen Regeln zu sprechen kam. Ein Staat müsse einen Flüchtling aufnehmen, wenn er „international schutzberechtigt“ ist. Allerdings, betonte der 74jährige, betreffe dies ähnlich wie im Grundgesetz nur politisch Verfolgte. Daneben gebe es drittens den Status des „subsidiären Schutzes“. Er geht auf eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2011 zurück. Damit eine Person unter diesem Titel anerkannt wird, müssen laut der Anordnung stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, daß der Person in ihrem Herkunftsland ein „ernsthafter Schaden“ droht und sie den Schutz ihres Heimatlandes nicht in Anspruch nehmen kann oder will. Dieser Schutz verfällt aber, wenn die Gefahr erloschen ist.

So hatte sich das auch die Bundesregierung gedacht, die seit vergangener Woche nur noch geschäftsführend im Amt ist: Alle Flüchtlinge werden aufgenommen; sobald der Krieg in ihrer Heimat beendet ist, kehren sie zurück, da der Fluchtgrund entfällt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muß spätestens nach drei Jahren geprüft haben, ob die Fluchtursache noch besteht und den Status des Betroffenen gegebenenfalls ändern. 

Nach Informationen der Welt geschieht jedoch genau dies nicht. Bis Ende September des laufenden Jahres gab es demnach lediglich 206 Rücknahmen und Widerrufe. Im selben Zeitraum erhielten rund 107.000 Zuwanderer vollen Schutz. Laut dem Ausländerzentralregister leben derzeit etwa 600.000 anerkannte Flüchtlinge in Deutschland. Geprüft wurden 1.552 Fälle. 317mal wurde zuungunsten der Einwanderer entschieden, neben den 2016 Personen mit Schutzstatus betraf das in 111 Fällen den Abschiebe- und Subsidiärschutz.

Papier zufolge ist diese „hoffnungslose Überforderung“ des Asylverfahrens nur logisch, da es für die „objektiv mißbräuchliche“ Anwendung bei Flüchtlingen in einem so weitgefaßten Sinne nicht ausgelegt sei. Zudem warnte er vor den Folgen für die Integration. Die „unterschiedlichen Zeithorizonte“ müßten auch dabei berücksichtigt werden. „Eine verfehlte und aus dem Ruder gelaufene Asyl- und Einwanderungspolitik kann nicht über ein nachgeschobenes Integrationsgesetz in jeder Hinsicht wieder repariert werden.“ Von einem Einwanderer, der von vornherein weiß, daß sein Aufenthalt in Deutschland nur von begrenzter Dauer ist, könne nicht erwartet werden, daß er sich gut integriert.

 Was also ist zu tun? Sollten die EU-Mitgliedsländer die Hoheit über die Asylentscheide an eine europäische Asylbehörde abgeben, wie es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen hat und in Deutschland etwa von der FDP gefordert wird? Papier plädiert für „ein Verfahren der Vorprüfung der Fluchtgründe in einem formalisierten Einreiseverfahren, vergleichbar dem elektronischen System der Einreisegenehmigung der USA“. Es müßte bereits vor der Einreise geprüft werden, wer Anrecht auf Asyl oder Schutz hat. Gerade in der Asylfrage könne er sich jedoch auch eine Lösung auf EU-Ebene vorstellen. Allerdings müsse notfalls immer die nationale Politik mit eigenen rechtlichen Mechanismen handlungsfähig sein können. Denn einen Königsweg in dieser Frage gebe es nicht.