© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Der Flaneur
Erlebnisreisen in der Ferienzeit
Paul Leonhard

Herbstzeit ist Reisezeit. Auf den Bahnsteigen wird das besonders deutlich. Neben den Berufspendlern drängeln sich rüstige Rentner mit Rucksäcken, Fahrradtouristen und Kindergruppen vor den Türen des Regionalexpreß. Die Bahn hat nur einen Triebwagen geschickt. Schließlich wirbt man aktuell mit Erlebnisreisen und nicht mit Entspannung.

Der Triebwagenführer zögert, die Türen zu öffnen. Eine burschikose Zugbegleiterin versucht, die Reisenden vor dem Einsteigen etwas zu sortieren: „Keine Angst, Sie kommen alle mit.“ Nicht nur ich zweifle daran.

Einzelreisende können sich in den Wagen drängeln. Familien bleiben protestierend zurück.

Als die Türen aufgehen, bin ich Zweiter. Hinter mir höre ich jemanden „Unverschämtheit“ schimpfen – ein Kinderwagen ist mit einem Rentner kollidiert. Die Zugbegleiterin bellt Befehle, ordnet Rad- und Kinderwagenbesitzer platzsparend ein und verdonnert die Radler dazu, ihr umfangreiches Gepäck abzuschnallen und unter den Sitzen zu verstauen.

Am Ende kommen alle mit. Aber die Gemüter sind erhitzt, nicht nur weil die Klimaanlage nicht läuft. Zwei tätowierte Väter von Kleinkindern haben die langhaarigen Radwanderer als Feindbild eingeordnet, Proll trifft auf Gutmensch. Die Bahnangestellte vermittelt. Am nächsten Haltepunkt wehrt man lieber gemeinsam Eindringlinge ab: „Das geht gar nicht!“ Einige Einzelreisende können sich jedoch geschickt in den Wagen drängeln. Familien bleiben protestierend zurück, als sich die Türen schließen.

Im Wagen streitet man sich derweil erneut. Jemand muß auf die Toilette, vor der zwei Kinderwagen stehen. Ich lerne völlig neue Worte kennen und höre längst vergessene wieder. Dann verlagert sich der Unmut auf eine junge Frau, die aussteigen will: mit ihrem Fahrrad. Das steht hinter fünf anderen. „Das hättest du dir früher überlegen müssen“, schimpft ein Langhaariger. „Blöder Ökofreak“, brüllt ein Mann. Ein Rentner mault: „Wegen zwei Stationen hätten Sie uns hier nicht belästigen müssen.“