© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Das Insektensterben lebt wieder auf
Bis zu 75 Prozent weniger Schmetterlinge, Falter, Wespen, Bienen, Käfer und Mücken?
Volker Kempf

Barbara Hendricks gönnte sich 2016 einen nagelneuen BMW 740e iPerformance. Aus Eitelkeit? Nein, dann hätte die Bundesumweltministerin – wie Kabinettskollege Alexander Dobrindt (CSU) – zum Topmodell 740Le xDrive mit mehr Beinfreiheit und Allrad gegriffen. Nein, der Abmahnverein Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte ihren nur ein Jahr alten Audi A8 3.0 L quattro als Diesel-Pkw denunziert. Ihre neue Limousine sollte sie – dank 258-PS-Benziner und Elektromotor für Kurzstrecken – von diesem Makel befreien.

Der Wechsel hatte offenbar noch einen zweiten Effekt, er machte den ministeriellen Blick frei für Wesentlicheres: „Wer heute übers Land fährt, findet danach kaum noch Insekten auf der Windschutzscheibe“, klagte die SPD-Politikerin im Juli und gab damit der Diskussion ums Insektensterben den letzten Ruck. Mit ihrer Alltagserfahrung unterstrich die Ministerin die Bedeutung eines Insektenrückganges um 80 Prozent, der erstmals im März verbreitete wurde und sich auf eine Zählung des Entomologischen Vereins Krefeld stützte, der an 88 Standorten in Nord­rhein-Westfalen Insektenfallen aufgestellt hatte. Gingen den Bürgerwissenschaftlern 1989 noch 1.117,1 und 1.425,6 Gramm Biomasse an flugaktiven Insekten in zwei Fallen, waren es 2013 nur noch 257,3 und 294,4 Gramm. Der Verlust liegt damit bei über 75 Prozent der Biomasse gegenüber 1989 (JF 17/17).

Kollateralschaden der Schnakenbekämpfung?

Daß ein BMW windschnittiger und damit insektenfreundlicher ist, wird Audi bestreiten. Oder gilt Hendricks Aussage auch für ein und denselben Wagentyp? Die Frage zeigt, so einfach liegt der Fall nicht. Zwischenzeitlich wurde die Krefelder Untersuchung und die Autoscheibenwahrnehmung auf die Probe gestellt, wie die Wissenschaftsmagazine Science und Plos One berichten. Caspar Hallmann von der Radboud-Universität Nijmegen machte sich mit Martin Sorg vom Entomologischen Verein Krefeld daran, über 27 Jahre in 63 Naturschutzgebieten aufgestellte Insektenfallen und dort gemessene Daten auszuwerten. Der geographische Schwerpunkt lag in NRW, aber es gab auch Standorte in Brandenburg und Rheinland-Pfalz.

Für die meisten Fachleute und kundige Naturschützer ist der Insektenrückgang nichts Neues, aber das gemessene Ausmaß mit 75 bis 80 Prozent weniger Fluginsekten überraschte dann auch Hallmann und andere Fachleute. Das wirft Nachfragen auf, etwa bei Alexandra-Maria Klein, Landschaftsökologin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. In der Wochenzeitung Der Sonntag zählt Müller auf, unter das Insektensterben fiel alles, was sechs Beine hat und fliegen kann: „Schmetterlinge, Nachtfalter, Wespen, Bienen, Käfer, Mücken, Schnaken“. Gab es in den bemessenen Gebieten vielleicht Schnakenbekämpfungen? Jede Antwort bringt mindestens eine neue Frage mit sich. Auch Müller erklärt, daß das Phänomen Insektenschwund nicht neu sei, es aber jetzt besondere Aufmerksamkeit finde. Es gäbe nur wenige Langzeitstudien, da dafür die Drittmitteleinwerbung schwierig sei. Deshalb auch der Anstoß durch Hobbyforscher. Damit verbunden sind wissenschaftliche Schwächen, die Klein ebenfalls aufzählt: „Das Versuchsdesign hätte optimaler angelegt werden können. Man hätte beispielsweise viele Standorte über Jahre wiederkehrend beproben müssen, man hätte die Insekten sortieren und nach Art bestimmen müssen.“ Auch die Untersuchungsräume seien mit Naturschutzgebieten einseitig.

Schwindende Artenvielfalt auch in Naturschutzgebieten

Das klingt nach vielen Unsicherheiten mit entsprechendem Forschungsbedarf. Aber an der Tendenz zweifelt Müller nicht. Der Schwund an Vogelpopulationen sei schon länger registriert und in einen Zusammenhang mit weniger Insektenmasse gebracht worden. Oder sind zu viele Vögel im Mittelmeerraum durch Vogelfang vernichtet worden? Auch so eine offene Frage. Aus Sicht der Freiburger Landschaftsökologin ist eines sicher, nur zu forschen, das sei zuwenig. Die Ökosysteme bräuchten Vernetzung, um Insellagen zu vermeiden – eine mögliche Mitursache schwindender Artenvielfalt in Naturschutzgebieten.

Vor allem aber steht schon lange die Landwirtschaft bei Ökologen im Fokus eines allgemeinen Artensterbens, seien es Säugetiere, Vögel oder Kriechtiere. Der Ökologe Josef H. Reichholf schrieb vor diesem Hintergrund vor Jahren in seinem Buch „Der Tanz um das goldene Kalb“, mit dem die Landwirtschaft gemeint ist, diese genieße zu viele Freistellungen und Privilegien im Naturschutz wie auch in anderen Bereichen.

Um so überraschender ist es, daß nun ein Insektensterben in Naturschutzgebieten gemessen wurde und hieran sich eine anhaltende Diskussion entspinnt. Oder genau deshalb? Für Reichholf jedenfalls wagen sich selbst Naturschutzverbände zuwenig an die Landwirtschaft heran, die Politik dann schon gar nicht. Daß im Wahlkampf das aufkommende Thema mit Naturschutz und weniger mit der Landwirtschaft verknüpft wurde, dürfte seiner Thematisierung im Wahlkampf zumindest entgegengekommen sein. Wer will es sich schon mit Landwirten verderben?

Die Landwirtschaft wird aber nicht ganz außen vor bleiben, sondern nur hintenherum über die chemische Industrie angegangen. Das umstrittene Herbizid Glyphosat (JF 20/17) steht kurz vor seiner möglichen EU-Zulassungsverlängerung. Es enthält einerseits keine insektenschädlichen Neonicotinoide, gleichwohl dient es der Verbreitung von Monokulturen, die der Insektenwelt eine pflanzliche Grundlage entziehen.

Besonders unökologisch ist das in Westdeutschland grassierende Schwinden von Grünland und Agrarflächen durch Bebauung. Auch jeder Häuslebesitzer bleibt gefragt, ob er die Mode der Steinwüsten in den Vorgärten mitmacht, oder doch auf mehr Grün setzt. Alles Kleinvieh, aber auch das zählt. Nicht zu vergessen ist, der Letzte macht das Licht aus, da auch dieses für das Insektensterben mitverantwortlich gemacht wird. Aber in Naturschutzgebieten?





Rückgang der Insektenbiomasse

Eine im Wissenschaftsjournal Plos One veröffentlichte Studie der Radboud-Universität Nijmegen bestätigt den von Naturschützern schon lange beklagten großflächigen und drastischen Insektenrückgang in Deutschland. Grundlage der Untersuchung sind gesammelte Daten des Entomologischen Vereins Krefeld, der seit 1989 in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg mit Hilfe von Fallen 53,5 Kilogramm Fluginsekten gesammelt und deren Masse bestimmt hat. Auch wenn es innerhalb der 27 Untersuchungsjahre große Schwankungen gab, so ist die Tendenz eindeutig: Der Verlust beträgt etwa drei Viertel. Als Ursache schließen die Forscher eine großflächige Umgestaltung der Landschaft aus, da die Daten nur in Naturschutzgebieten erhoben wurden. Auch der Klimawandel scheide wegen steigender Durchschnittstemperaturen aus. Vieles spreche für eine Folgewirkung der Intensivierung der Landwirtschaft.

Radboud-Studie „More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas“:  doi.org

Entomologischer Verein Krefeld e.V. 1905:  www.entomologica.org